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Teil aus Kapitel 1
Sein Wohnzimmer ist von großbürgerlicher Selbstironie. Pinienholzmöbel aus amerikanischen Kolonialtagen, Erbstücke von einigem Gewicht mit eingeschnitzten Miniaturszenen der Boston Tea Party. Joseph setzt sich nicht wie sonst aufs Sofa, das mit dem schwarzen Bezug. Er legt sich ins kardinalrote Seidenpolster des Sargs, der vor dem Kamin auf dem Boden steht. „Slainte Mhath“, sagt er seinen Trinkspruch. Gälisch, nasal: slantsche wah. Er hebt das Glas Gin und prostet Helen und ihrer Kaffeetasse zu. Das Kristallglas, in dessen Wand spitze Rauten geschliffen sind, stellt er auf dem Tisch neben dem Sarg ab. Er rückt seine braune Seidenkrawatte unter dem hellgrauen Sakko zurecht. Sein weißes Hemd ist makellos, Kragen und Manschetten sind gestärkt. Er setzt sich auf, um Helen mit gespitzten Lippen auf den Mund zu küssen, wie er es seit Kindertagen tut. Dann legt er sich wieder hin und klappt den Deckel zu. So schnell, dass Helen ihn nicht festhalten kann. So entschlossen, dass sie einen Moment lang nichts zu tun weiß, als laut zu lachen. Der Sarg, eben erst angeliefert, ist die Replik eines römischen Sarkophags. Steinfarben gebeiztes Holz mit Kapitellen an jeder Ecke. Spitz zulaufender Deckel. Schwere Eisenringe für die Träger und Totengräber. Die Kopie eines antiken Klassikers. Meine theatralische Verneigung vor der Geschichte zivilisierten Dahinscheidens, hat Joseph gesagt. „Eine perfide Geschmacklosigkeit. Genau richtig für mein Vorhaben.“
Helen klopft mit lahmer Hand auf den Sargdeckel, verunsichert. „Joseph, komm jetzt da raus, das ist nicht witzig. Hör auf mit dem Quatsch. Du spinnst doch.“ Tatsächlich erwartet sie nur halbherzig, dass er den Deckel wieder öffnet. Er hat auch damals Ernst gemacht, als er von der Empore im zweiten Stock seines Elternhauses gesprungen ist – einer Burg aus dem 12. Jahrhundert mit hohen Decken.
„Wetten?“
„Nie und nimmer springst du. Du wirst dir den Hals brechen.“
„Wetten? Ich springe runter, genau zwischen, nein: besser auf die chinesischen Vasen.“
„Hör auf mit dem Quatsch, du spinnst doch.“
„Ich bitte dich, Helen: Die Vasen sind abscheulich.“
Minuten ziehen dahin und Helen ruft lauter. Überlegt, wie oft sie ihm diese Worte in den über dreißig Jahren ihrer Freundschaft an den Kopf geworfen hat. Hör-auf-mit-dem-Quatsch-Du-spinnst-doch. Als hätte sie nie verstanden, worum es ging. Helen weiß, dass er die Angst in ihrer Stimme erkennt, sofern er überhaupt etwas hört. Keine Antwort. Der Deckel sitzt wie verschraubt. Unnachgiebig. Dicht. Helen schreit noch einmal. Beherrscht zunächst. Hysterischer dann: „Ich bitte dich, Joseph, komm da raus, lass uns reden, komm jetzt da raus!“ Aber er rührt sich nicht. Wahrscheinlich hat er längst diese kleinen Stöpsel in seinen Ohren, die er auch beim Spazierengehen trägt, hört Kantaten von Bach, während er erstickt. Herz und Mund und Tat und Leben. Sich zu ersticken sei besser als der plötzliche Herztod, hat er beschlossen und dazu gelacht. Dieser Herztod, der mehreren Ärzten zufolge unausweichlich auf ihn zurase. So legt Helen schließlich ihre Hände auf das Holz. Sie weint nicht, weil der Tod in diesem Raum trotz seiner Berührbarkeit unwahrscheinlich bleibt. Dann geht sie und glaubt ihm. Nach Minuten oder Stunden – die Zeit ist aus ihrem Rahmen gefallen – verlässt Helen sein Wohnzimmer, das kalt ist wie immer und dessen Dekorationen, penibel abgestaubt, auf den einzelnen Möbelstücken aufgebahrt sind in der Reihenfolge, die schon Josephs stinkreicher Großvater Rodman für richtig hielt. Ein Meissner Pagode aus der Mitte des 18. Jahrhunderts – lächelnder Buddha mit beweglichem Kopf. Schubst man ihn, nickt er lange und willenlos glücklich. Ein Kandelaber aus Baccarat-Kristall, die Zapfen und Blätter an seinen Ästen derart geschliffen, dass Schnittverletzungen möglich scheinen. Die Partagas-Tabakfabrik auf Kuba als Humidor – nikotingeschwängertes Puppenhaus mit drei Etagen und prall gedrehten, braunen Bewohnern, weitläufigen Terrassen und handgeschnitzten Türen.
Dann irgendwo eine Krankenwagensirene. Für einen Moment hofft Helen, dass sie Joseph gilt und näher kommt, bis ihr Lärm ein paar Straßen weiter austönt. Sie schaut zurück auf die dunkelroten Brokatstoffe an Josephs Fenstern. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo Helen wohnt, haben Bauarbeiter begonnen, ein Gerüst zur Fassadensanierung aufzubauen. Genau vor Helens Haus. Aus ihrem Wohnzimmer und aus ihrer Küche kann sie in Josephs Wohnung schauen. Die Bauarbeiter sitzen auf dem Brett vor der ersten Etage und rauchen, einer trägt geblümte Hosen und einen roten Sweater und tippt in sein Handy. Helen beguckt Josephs Wohnzimmer. Das dunkle Parkett und den schwarzen Kamin. Die Pinienmöbel, Entwürfe von Großvater Rodman, die den Börsenkrach von 1929 überstanden haben und nach einer abenteuerlichen Überseefahrt auch noch fünfzehn Jahre in schlecht beheizten Burgmauern. Ein letzter Blick auf den Sarg ihres Freundes, dieses zudringliche, pathetische Möbel, von dem sie nichts zu halten weiß, dessen Funktion ihr mindestens erratisch erscheint. Wozu überhaupt ein Kasten? Wozu jeglicher Tand? Zur Verwesung reicht ein Tuch. Laub. Nichts. Der Schmuck spielt nur für die Bleibenden eine Rolle, für ihr Gewissen, ihnen zum Trost, ein Auftritt von wenigen Minuten. Geldverschwendung. Wenn die Nachwelt wenigstens dauerhaft etwas davon hätte. Aber nicht für jeden kann eine Pyramide oder ein Taj Mahal errichtet werden, die Erdoberfläche wäre voll von Tod und Gedenken. Ohnehin stellte sich die Frage, auf wie vielen Toten man tagtäglich herumtrampelte, unweigerlich, die ganze Erdoberfläche war von ihnen gedüngt – die Welt ein einziges Totenbett.
Benommen steigt Helen die Treppen von Josephs Haus hinunter, die sich auf halbem Weg in die Terrazzostufen ihres Elternhauses verwandeln. Dem Haus in der Zugasse, wo sie seit drei Tagen als Krankenvertretung ihren Vater bemuttert und in ihrem alten Kinderzimmer schläft. Und gerade, als sie den kühlen und über Jahre klebrig gewordenen Handlauf loslässt, die schwarze Plastikbahn, auf der Joseph früher Spielzeugautos heruntersausen ließ und jubelte, wenn sie den Weg bis zum Ende schafften, in dem Moment also, in dem ihr klar wird, dass sie ihren Freund verloren hat und dies einen unsäglichen, unerträglichen, unermesslichen Schmerz wird nach sich ziehen müssen, in diesem Moment fühlte sie den Zeigefinger an ihrer Schulter: „Helen. H-e-l-e-n!“ Ihr Vater war bereits angekleidet und blickte dumpf erstaunt aus wässrigen Augen auf sie hinunter. Herr Nienhaus besah sie wie das Kind, das schon wieder verschlafen hat, weil es die halbe Nacht unter der Bettdecke gelesen hat. Frühstück war für sieben Uhr dreißig vorgesehen, sagten seine Augen, sieben Uhr dreißig.
Nun sitzt Herr Nienhaus hinter ihr und wartet, während Helen den Abend besichtigt. Der Himmel ist betörend. Rot. Uneben. Göttliche Wischtechnik. Sie steht am Fenster und besieht die Abendglut. Eine Offerte zur Aufforstung des Tages durch Brandrodung–und der Tag wäre wert, aus dem Kalender gerodet zu werden. Jede einzelne Sequenz ihres Traumes auch jetzt noch, zehn zerstreuungsgeeignete Arbeitsstunden später, so klar vor ihr wie Sekunden nach dem Aufwachen im Kindergästezimmer. Das haben ihre Eltern aus ihrem Zimmer gemacht: ein Gästezimmer, in dem in zwanzig Jahren kein Gast gelegen hat. Herr Nienhaus sitzt im Lehnstuhl neben dem Fenster, in dem er seit seiner Pensionierung sitzt. Ununterbrochen, sieht man von Bedürfnisgängen ab. Sein Radius hat sich nicht allmählich eingeschränkt. Ihr Vater selbst hat ihn aus freien Stücken und buchstäblich von jetzt auf gleich auf ein Minimum begrenzt. An seinem letzten Feierabend vor fünfzehn Jahren war das. Einem Abend, an dem er wohlgelaunt und ohne Wehmut mit einem Karton Fotos und Unterlagen aus seinem Büro im Patentamt kam. Er hat den braunen Karton neben sich auf den Boden gestellt und sich in den honiggelben Holzstuhl gesetzt, dessen alternder Bezug aus bunten Samtstreifen seinem Gesicht Farbe verleiht. Unerhörte Fröhlichkeit geradezu, derer er nicht bedarf: Herr Nienhaus ist ohnehin froh in seinem Lehnstuhl, glücklich womöglich, bei Sinnen, soweit feststellbar. Er schaut aus dem Fenster. Er liest. Er schreibt. Er spricht ins Telefon ab und an; zu wem, ist Helens Mutter so unklar wie gleichgültig. Alte Kollegen, was weiß ich. Helen weiß es auch nicht. Mitgebracht hat ihr Vater in ihrer Kindheit und Jugend jedenfalls nie jemanden. Betriebsklimatische Zusammenkünfte, Weihnachtsfeiern, Sommerfeste waren ihm ein Gräuel, das er pflichtbewusst und in höflicher Freundlichkeit über sich ergehen ließ. Bei seiner Beförderung zum Abteilungsleiter verköstigte er seine Mitarbeiter im Amt mit den für solche Anlässe üblichen Häppchen und, um keinen prahlerischen Eindruck zu machen, Sekt „aus dem oberen Bereich des mittleren Preissegments“. Es wäre ihm nicht eingefallen, sie nach Hause oder wenigstens in ein Restaurant einzuladen. Zweifellos verfügte Herr Nienhaus über die Kompetenz des Eremitischen. Alte Kollegen am Telefon waren Helen darum schwer vorstellbar, andererseits war ein Telefon noch keine Weihnachtsfeier, und überdies wusste sie nicht mit letzter Gewissheit, ob seine Einstellung zur Gesellschaft seit ihrem Auszug unverändert geblieben war.
Dass sich ihr Vater zu festen Uhrzeiten am Esstisch einfindet und zu Bett geht, findet sie angesichts seiner Zufriedenheit in dem gestreiften Sessel erstaunlich. Er saß dort und dachte vor sich hin, nichts Mürrisches im Ausdruck, wie manche Alte es sich ins Gesicht lebten. Vielleicht rechnete er im Geiste physikalische Formeln durch, rief sich abgelehnte oder stattgegebene Patentanträge aus seiner Lau ahn vor Augen, vielleicht entwarf er auch ein eigenes Konzept des Raum-Zeit-Kontinuums. Was immer er tat: Er war zufrieden damit und mit den wenigen Worten, die er mit seiner Frau und Helen tauschte. Die Regelmäßigkeit eines von Mahlzeiten bestimmten Tagesablaufs war ihm genug. Und wenn Helen dieser Tage in Vertretung ihrer Mutter den Tisch deckte, mit dem Geschirr klapperte, die Getränke auftrug, dann war es, als läute sie. Er legte, Stück für Stück und im Rhythmus ihrer Geschäftigkeit, seine Sachen beiseite und bereitete sich für den Weg zum Esstisch vor. Vier Schritte, wenn überhaupt. Er verfolgte den Fortgang ihrer Arbeiten, um zur Punktlandung mit der Butter anzusetzen, die Helen immer zuletzt brachte, damit sie kühl war. Und streichfest.
Helen lässt die Gardine zurückfallen. Über die schlackenhafte Wirklichkeit. Was für ein Bild zu diesem Tag, der sich seit dem Traum anfühlt, als sei er ihr versehentlich zugeteilt worden, Secondhand, gebraucht von jemand anderem, sowieso nicht für sie bestimmt. Sie wendet sich Herrn Nienhaus zu, der geduldig wartet, dass sie ihm aus der Zeitung vorliest. Betrachtet seine grünbraunen Augen. Die hohe, dünnhäutige Stirn mit den Altersflecken. Das weiße Resthaar, das in letzten Locken um seinen Kopf liegt und aus Ohren und Nase wächst. Helen lässt die besonderen Merkmale des Alters auf sich wirken. Absurd, die Gelegenheit nicht zu ergreifen. Die Zeit zu zweit, die zufällig anfallende, räumliche Nähe ließe sich zweifellos besser nutzen, als sie beide es tun. Sie ließe sich mit einem Versuch von Vertraulichkeit oder, weniger hochtrabend, einem Gesprächsbeginn füllen. Statt der Endlosschleife wiederkehrender Weltnachrichten in konfusem Turnus und von fehlender Systematik könnte am Ende Wichtiges gesagt sein. Aber welchen Wert hat das ihr Wichtige für ihn, zumal jetzt, da es bei ihm im weitesten Sinne um Größeres geht, ums Finale? Irgendwo in den Hauptsachen hat sie es gelesen: „Das Problem mit dem Leben (so denkt der Romanschriftsteller) ist seine Formlosigkeit, seine lächerliche Veränderlichkeit. Seht doch nur: es ist schlecht entworfen, hat selten ein Thema, es ist sentimental und unentrinnbar banal. Die Dialoge sind ärmlich, auf jeden Fall entsetzlich holprig. Die Wendungen sind entweder vorhersehbar oder effekthascherisch. Und immer hat es denselben Anfang und dasselbe Ende …“
Unweigerlich würde das Gespräch mit ihrem Vater ärmlich, denn das Thema, sofern es diese Bezeichnung verdient, wäre unentrinnbar banal, natürlich, und Banalität verzeiht ihr Vater nicht. Herr Nienhaus hat auch etwas gegen Sentimentalitäten. Es ist ja nicht einmal so, dass es schlecht um seine Gesundheit stünde und die in Leben und Literatur gern genommene Zeit für ultimative, effekthaschende Weichheit knapp würde. Mit sechsundsiebzig erfreut er sich einer robusten Gesundheit. Es gibt, neben Haarwuchs an den falschen und Altersflecken an präsenten Stellen, nur die gängigen Begleiterscheinungen körperlichen Verfalls. Unfälle mit Inkontinenz, dem Geruch nach zu urteilen. Nachlassendes Hörvermögen, deutlich, gelegentlich auch strategisch. Kreislaufmalaisen, die Helen seiner jahrelangen Unbeweglichkeit statt seinem Alter zuordnet. Und Blähungen, knallende, pfeifend verebbende Laute mit Dämpfen von Ammoniak. Doch alles in allem ist er gut beieinander, und ausgerechnet diese für eine, nun ja: ernstere Unterhaltung sprechende Tatsache steht mindestens so gewichtig dagegen. Es wäre nur eigennützig, ihm die Laune zu verderben mit einem Thema, das ihm bestenfalls unverständlich, schlimmstenfalls peinlich wäre. Andererseits bleibt es prosaisch, dieser Tage vor ihm zu sitzen, Tee zu trinken, den Part ihrer Mutter zu übernehmen und ihm aus der Zeitung vorzulesen. Amoklauf erschüttert das Land. Opposition zieht Steuererhöhung vor. 100 Milliarden neue Schulden. Die Rückkehr ihrer Mutter ist absehbar. Noch zwei Tage. Heilungsverlauf nach Entfernung der harmlosen Zyste am linken Eierstock optimal, sagt die behandelnde Ärztin Stumpenhott, Vorname Sabine. Wie immer gibt es keine eindeutige Antwort für Helen. Nur eine Tendenz. Das Bemühen, Wahrheiten fernzuhalten. Wahrheit. Illusion von Tiefsinn und Erkenntnis. Es geht natürlich nicht um Wahrheiten. Nur um ein bisschen Wahrheit. Um ein paar Details.
Die Zeitung liegt auf seinem Schoß, gleich wird Herr Nienhaus sie gegen die Tasse Tee tauschen, den Kopf zurücklehnen und Helen zuhören. Er kann noch gut lesen, aber es strengt ihn an. Lieber konzentriert er sich auf den Inhalt als auf die Geradlinigkeit der Zeilen oder die Druckschärfe einzelner Buchstaben. Ihr Vater ist ein aufmerksamer Zuhörer. War es immer. Mit den Jahren jedoch wandelte sich sein wacher Blick in einen wachsamen – geprägt von der Unsicherheit des nachlassenden Hörvermögens und der Frage, ob seine retardierenden Synapsen die Zusammenhänge richtig fügten. Ließ sich früher in seinem Gesicht ablesen, was er dachte, ist es inzwischen ein Rätselraten. Das Alter hat ihm eine formlose Undurchdringlichkeit verliehen, die gleichermaßen Ablehnung, Überraschung, Freude, Missbilligung bedeuten kann. Jeder, wirklich jeder Reaktion geht der dumpf erstaunte Blick voraus, mit dem er Zeit schindet. Zeit, die sein Gehirn für die Verarbeitung der jeweiligen Information benötigt. Er blickt dumpf erstaunt aus seinen Waldaugen, den Mund halb geöffnet. Er blickt sogar dann so, wenn er nicht im Mindesten erstaunt darüber ist, dass die Opposition die Steuererhöhung für die bessere Variante hält oder einem Politiker ein Zitat zum Verhängnis wird, weil das N-Wort darin vorkam. Liest Helen ihm dergleichen vor, blickt er dumpf erstaunt und schüttelt dann resigniert den Kopf. Die Dummheit ist das Gefährlichste, sagt sein Blick. Sie ist die größte Gefahr der Menschheit. Spräche er das aus, wäre es eine bodenlose Banalität, er guckt also nur. Familienvater ersticht Frau und Kind aus Eifersucht. Jugendlicher bei Prügelei vor die U-Bahn gestoßen. Er hört zu, was Helen über anderer Leute Dasein und Ende liest, und denkt dabei an die lächerliche Veränderlichkeit des Lebens. Und über den Tod dasselbe wie sie: dass es sich um einen Gefährten handelt, dessen Freundschaft man sich zeitlebens sichern sollte.
Ab und zu blickt Herr Nienhaus auch dumpf erstaunt und lächelt dann leise. Etwa, als sie ihm die Meldung über den ansehnlichen Versteigerungswert eines fast zweihundert Jahre alten Minichronometers vortragen konnte – vorgestern war das. Dann fühlt er, der Physiker mit der Vorliebe für Astronomie, seine Welt wieder in den Fugen. Als sei noch nicht alles verloren. Wenn die Menschheit sich noch die Mühe macht, die Schätze ihrer Geschichte zu achten und neu zugänglich zu machen, wenn die Leute hingehen und Zeit als messbare Größe in limitierter Pro-Kopf-Auflage ernst nehmen, sagen seine Augen, dann haben wir noch eine faire Chance. Vermutlich gibt es ihm Trost, sich zu vergegenwärtigen, dass manches von Wert überdauert. Ihn, die Nachrichten, Helen. „Machst du das Fenster noch auf, bevor du anfängst?“, fragt er, als Helen mit dem Hagebuttentee aus der Küche zurückkommt. Sie stellt die Tasse auf dem Beistelltisch ab. Zieht die weiße Gardine wieder zurück und öffnet weit das Fenster. Kein Rot mehr zu sehen. Der Himmel ist jetzt dunkelblau; die Luft entschleiert.
Auf dem Bürgersteig gegenüber zwei Stockwerke tiefer sieht Helen zunächst nur Verrenkungen. Hampeln, das zweifellos ihr gilt. Ein ausladendes Winken mit beiden Armen, als tue es not, einem Papierflugzeug die Landebahn zu weisen. Dann kommt die Stimme dazu. „Helen! Das glaub ich nicht! Helen! Hallo!“
Auch Herr Nienhaus hört das und blickt wie zu erwarten.
Unverkennbar. „Da unten steht Klio“, konstatiert Helen und findet es selbst unglaublich. Klio. Auch das noch. „Eine alte Klassenkameradin. Sie wohnte zwei Straßen weiter.“
Der Ausdruck ihres Vaters verändert sich kaum merklich. Klio, sagt sein Blick, wer, um Gottes willen, benennt ein Kind nach der Muse der Heldendichtung und mit einem Namen, der pubertäre Verunglimpfungen geradezu herausfordert?
„Komm runter, Helen! Komm doch mal runter“, schallt Klios Stimme nach oben. Die Erinnerung an früher, an die Schultage dreißig und fünfundzwanzig und zwanzig Jahre zuvor, an denen sie ebenso gerufen hat, Klio, die Heldin der Dichtung – ganz sicher nicht Muse –, wird lebensgroß. Helen hebt die Hand zum Zeichen ihres Kommens, befremdet über die Rückblende in eine Zeit mit ledernen Ranzen, muffigen Sportbeuteln und hautbekränzter Milch aus gepunkteten Plastikbechern. Eine Zeit mit gekneteten Zettelchen in der Hosentasche, luftgetrockneten Kaugummis unter dem Pult und Zigarettenbrandringen auf Klobrillen. Eine Zeit, in der Erlebnisse zu Erinnerungen wurden und Geschehnisse ihre Schwerelosigkeit verloren. Auch das noch. Ausgerechnet heute. Noch ein Alptraum. Als Helen hinuntergeht, werden die schwarz-weiß geflockten, rot umrahmten Terrazzostufen im Flur, diese Stufen mit ihrer kosmischen Maserung, zum ersten Mal seit Jahren als die identifizierbar, die sie als Kind abgelaufen ist. Mit und ohne Joseph. Zum hundertsten Mal an diesem Tag Joseph in ihrem Kopf. Joseph und der Traum und die Treppe. Nicht abzustreifen, das nächtliche Blendwerk. Wahrscheinlich wäre die Menschheit besser dran, jedenfalls wäre sie unter den besonderen Umständen dieses Tages besser dran, wenn Terrazzo grundsätzlich und allerorten erinnerungsfreier Terrazzo wäre. Diese Zeit und Klio und ihre Geschichten – kaum zu glauben, dass es sie überhaupt einmal gegeben hatte.
Unten auf der Straße Begrüßungsgeschrei und dunkle Locken in Helens Gesicht. Klio riecht nach Lotus und Orangen, Tabak und Pfefferminze. Ihr Lippenstift klebt.
„Das ist verrückt! Gerade habe ich Paco gezeigt, dass du hier gewohnt hast. Und da stehst du am Fenster, überhaupt nicht verändert. Na ja, gut, keine Zöpfe mehr, aber immer noch die langen, blonden Haare.“ Ein Schritt zurück, um die ganze Helen zu begucken. „Als wäre kein Tag vergangen.“
Zerschlissene Jeans, ein schwarzes Hemd und silberne Ketten um ihren Hals. Klios hellbraune Lederjacke sehr weich. Sie sieht aus wie ein Teenager nach durchfeierter Nacht, übermüdet, selbstzufrieden. Die Heldin der Dichtung betrachtet Helen traulich. Die schwarzen Stiefel, die schwarzen Strümpfe, das schwarze Strickkleid, die breite Kette aus Horn und die cognacfarbene Strickjacke. Sie studiert jedes Detail, derweil Helen keines der Komplimente zurückgibt und ihr Blick auf Klios Gesicht verweilt.
„Das ist mein Sohn Paco“, erklärt Klio. „Paco, das ist Helen. Eine besondere, liebe Freundin. Mein Fels in der Brandung wilder Jugendzeit.“
Helen, die nie eine besondere Freundin von Klio und auch kein Fels war und die sich sehr wohl verändert hat, wendet sich dem Burschen zu. Obwohl sie ihn aus dem Fernsehen und den Rezeptheften im Supermarkt kennt, diesen Heften, die zu Weihnachten, Ostern, zur Spargelzeit und Grillsaison an der Kasse ausliegen, erkennt sie erst jetzt, was sie am Gesicht dieses Fernsehkochs immer irritiert hat. Es ist unübersehbar, nun, da er neben seiner Mutter steht, von der Helen nicht wusste, dass sie seine Mutter ist. Nun also, da eine Verbindung überhaupt herstellbar wird. Paco sieht Joseph so ähnlich, dass es sich wie eine Verletzung anfühlt. Wie ein Schnitt. Abgerutschtes Tomatenmesser an kaltem, wassernassem Zeigefinger. Keine große, eine beharrliche Angelegenheit. Aufbrennen, das mit dem Eindringen von Tomatensaft in die Wunde einhergeht. Aber natürlich deutet Paco Helens Gesichtsausdruck anders. Seine Eitelkeit, weiteres Indiz in Richtung Joseph, lässt nicht zu, dass er ihrem Erstaunen eine unerfreuliche Ursache zuschreibt. Paco ist zufrieden, dass sie auf seine Berühmtheit reagiert. Dass die episodisch sein wird, ist nach allem, was Helen über ihn weiß, so sicher, dass sie ihm zurufen möchte, er solle rennen. Gleich. Sofort. Die Lawine steten Erneuerungsbedarfs wird ihn begraben, ihn, seinen Zynismus, seine Täuschungsmanöver, seine Frische, seine Eitelkeiten, seine Überzeugungen. Seine Tage als Unterhalter an brodelnden Töpfen sind gezählt, und dann kommen die Wiederholungen. Vielleicht noch Auftritte auf Pfarrfesten und Flusskreuzfahrtschiffen. Soll er rennen? Helen ruft nichts. Unter Umständen weiß er ja, was er tut.
Paco ist klein und beleibt und schlecht gelaunt und scheint, aus dieser Nähe betrachtet, den gröbsten Jugendschwierigkeiten gerade erst entwachsen. Als habe seine Mutter ihn soeben im Turnverein abgeholt und ihm einen Vortrag über seine abendlichen Ausgehzeiten und die Gefahr maßlosen Schokoladenverzehrs gehalten. Joseph ist nicht klein und nicht beleibt, im Gegenteil. Aber der Rest ist sein Ebenbild. Verwandte Gesichtszüge, gleiche Hautbeschaffenheit, bartlos, ebenmäßig. Ausgeprägte Kiefer- und Wangenknochen. Kreisrunde, grünblaue Augen, gleichmütig. Schulterlange blonde Haare, beide. Wieder das Messer. Wieder Tomatensaft im Blut. Pacos Miene unbeteiligt, als er Helens Hand nimmt. „Freut mich.“ Er sieht auf die andere Straßenseite. Gesichtsausdruck, Mundwinkel, Nase. Letztere formvollendet wie ein rhinoplastisches Muster. Alles bekannt, vertraut, geliebt.
„Wie gesagt“, plaudert Klio zur Einleitung dessen, was noch nicht gesagt wurde, „gerade habe ich Paco erzählt, dass du die Einzige aus meinem Freundeskreis von früher bist, die genau das tut, was sie immer tun wollte. Und die damit auch erfolgreich ist!“
Ihr Gesicht immer noch das herzförmige Tuesday-Weld-Gesichtchen der 1950er-Jahre. Tadellose Lippen, unbestimmte Augen, die sich auf nichts festlegen.
„Und das ist wahr, Helen?“, fragt Paco und zieht seine tiefsitzenden Jeans, unter denen er rotgrün karierte Boxershorts trägt, ein unwesentliches Stück höher. Er schaut immer noch auf die andere Straßenseite, auf der nach wie vor nichts passiert, sardonisch jetzt. „Sie wollten schon als Kind nur mit Büchern rummachen?“
Helen lächelt. Als Kind wusste sie, dass man manche Menschen in Büchern umblättern konnte. Unüberhörbar, dass Paco seine Mutter nicht mag.
Irgendwo hat Helen gelesen, dass er einundzwanzig Jahre alt ist. Das also passt. Die Heldin der Dichtung verließ die Schule mit siebzehn kurz vor dem Abitur. Es wurde allerlei erzählt. Helen hatte Joseph nie dazu befragt. Wozu auch? Die Frage hätte nur andersherum Sinn gemacht: Mit welchem Mädchen außer Helen war Joseph nicht kopulativ? Ebenfalls hat sie gelesen, dass Paco mehr Geld einbrachte als andere Fernsehköche, von denen es laut Zeitungsgrafik mehr gab, als Helen für möglich gehalten hatte. Allerdings: Dass es in Verlagen Grafiker gab, die bunte Torten zur Fernsehköcheerfassung fertigten, fand sie noch erstaunlicher. Paco jedenfalls verdiente laut Torte viel, weil er neben Fleisch und Gemüse sein Seelenleben zerhackte. Das jedenfalls, was die Zuschauer dafür halten sollten und was bei ihm die Überschrift „Vater: unbekannt“ trug. Den Erzeuger, um den allerlei Legenden gebildet wurden, beschimpfte Paco in jeder Sendung. Wenn es eine Kunst war, so kannte er ihre Regeln. Das Feuilleton der von Helen abonnierten Zeitung hielt es einstweilen für „die zeitgemäße, selbstironische Karikatur der zunehmend bindungslosen Generation“. Bei Boulevardzeitungen, so bot ein Kastentext zum selben Artikel dar, hatten sich bislang zweihundertundzweiundsechzig potentielle Väter gemeldet. Klios Ansicht über die stattliche Anzahl vermeintlicher Liebhaber wurde nicht dargelegt.
Als Helen beim Streifzug durch die Fernsehprogramme zum ersten Mal über Pacos Sendung stolperte, ahnungslos, dass es sich um Klios Kind handelte, hatte sie lediglich bestaunt, dass seine infantilen Tiraden mit Kreationen wie Kiwiwürfeln an Thymianschaum einhergingen. Einer Köstlichkeit, die ihre Kollegin Melanie – eine von Josephs Gelegenheitsgeliebten – nachgekocht und mit ins Museum gebracht hat. Wo Helen seit fünf Jahren die Bibliothek leitet. Sein Rezept für Kalbshirn nannte Paco „Dad’s Dead Inn“, „Sugar Daddy“ einen Cocktail mit derart viel Tabasco, dass für magenempfindliche Zuschauer ein Warnhinweis eingeblendet wurde. An der Wand in seinem Kochstudio hing eine knallrote Dartscheibe, in deren Herz es den gekreuzigten Buchstaben t des Wortes Vater mit japanischen Filetiermessern zu treffen galt, was den unverzagten Studiogästen gern gelang. Von ihnen wurde allerdings selten bekannt, ob sie ebenfalls Probleme mit ihren Vätern hatten. Tatsächlich war außer den exzellenten Rezepten nichts an der Sendung einfallsreich, noch trug es dem beabsichtigten Tabubruch Rechnung. Doch im neuen Lichte von Pacos Abkunft und seiner Ähnlichkeit mit Joseph war alles bedenkenswert.
„Ich habe vor ein paar Monaten einen Artikel über dich gelesen.“ Klio reißt Helen aus den Verkettungen, die sich hübsch und folgenschwer aneinanderreihen. Was Joseph ein Kind, ein Sohn, diese ganz unerwartete Verwandtschaft bedeuten muss! „Es ging um die Handschrift, die dir in die Finger gekommen ist. Sie haben dich als Koryphäe bezeichnet. Und du hast dich, wie damals in der Schule, nur geschämt: Ich habe schon wieder eine Eins? Oh! Wie konnte das passieren?“ Klios Augen wie früher. Unverstelltes Lachen. „Ich habe mich sehr für dich gefreut, dass dir etwas so Seltenes und Kostbares in die Finger gekommen ist.“
„Es war ein Glücksfall.“ Helen betrachtet Paco. „Dass man einen völlig unbekannten mittelalterlichen Text in die Finger bekommt, ist außergewöhnlich, vielleicht einmalig. Der Rummel drumherum war hingegen gewöhnungsbedürftig. Ich bin kein Showtalent. So ganz anders als dein Paco.“
In Pacos Gesicht bewegt sich etwas. Ein Zucken am linken Mundwinkel, bevor er Helen mit einem Blick bedenkt, den seine Aufnahmeleiter für bestimmte Kameraeinstellungen empfohlen haben mochten. Dazu steckt er seine Hände tief in die Taschen seiner Hose, dass sie fast zu Boden fällt. Er zieht die Schultern zu den Ohren. Auch Josephs sind groß und stehen vom Kopf ab.
„Dabei hättest du sicher viel zu erzählen“, meint Klio, während ihr Sohn Helen belauert. „Du könntest ein eigenes Sendeformat kreieren, Historie zur Masse tragen; Handschriften, Bücher, deine ganze Quellenkunde.“ Fungiert die Heldin der Dichtung als seine Managerin und will ihre Dienste auch Helen anbieten? Weiß sie Quellen und Handschriften auseinanderzuhalten? Blick auf die Armbanduhr. „Es ist jedenfalls kein Zufall, dass wir beide uns nach all den Jahren genau hier treffen, was? Es ist Bestimmung!“ Nun beide Hände an Helens Oberarmen. Klio rubbelt, als wolle sie Helen von der unerwarteten Begegnung abtrocknen. „Ich bin noch zwei Tage hier – besuche Paco und natürlich meine Eltern. Wie du offenbar deine. Wollen wir uns für morgen oder übermorgen zum Essen verabreden, abends, nachdem wir die alten Herrschaften ins Bett verfrachtet haben?“ Sie sieht an der Fassade des grauen Hauses hinauf zum zweiten Stock, wo das mittlere Fenster noch immer weit offen steht; ihre Hände sinken zurück: „Wie geht es ihnen eigentlich?“
„Recht gut. Sie altern behutsam.“
„Und dir? Wie geht es dir? Hast du inzwischen Kinder? Bist du verheiratet, sonst wie liiert?“
Eingangstest für die stillschweigende Übereinkunft ehemaliger Weggefährten, alle Vergangenheit unter Jugendsünde zu verbuchen, sofern inzwischen altersgemäße Entwicklungen nachweisbar sind. Die Frage zwischen ihnen wird zudringlich, ob Helen in dreißig Jahren nie aus dieser Straße, von diesem Haus weggekommen, nie weitergekommen, nie geheiratet und geschwängert, unter Umständen nie geliebt worden ist. Paco bestarrt sie.
„Ich wohne am anderen Ende der Stadt“, erklärt sich Helen; nackt, ohne die erwarteten Insignien des Erwachsenenlebens, die alles Bisherige als Vorspiel legitimiert hätten. Gegenüber von Joseph, fügen ihre Gedanken an, in einer Wohnung von enormen Ausmaßen und großer Schönheit. In einer Wohnung, in der ich Licht und Ruhe und Raum für mich allein habe und nach der man in einer Stadt wie dieser verdammt lange suchen muss. In einer Wohnung, die mir bald gekündigt werden wird.
„Lass uns essen gehen, Helen. Es gibt so viel zu erzählen. Gib mir deine Nummer! Ich rufe dich an und wir machen etwas aus.“
Helen diktiert der Heldin der Dichtung die Nummer ins Handy. Widerwillig, denn sie hat nicht vor, mit Klio essen zu gehen und sich für dumm verkaufen zu lassen in Sachen Joseph wie die Fernsehzuschauer.
Sie hat nicht vor, die alten Jahre durchzuhecheln mit „weißt du noch“ und „war das nicht lustig“, vor allem nicht nach einem Traum wie dem der vergangenen Nacht. Sie hat nicht vor, Klios Version einer Geschichte zu hören, die sich bestimmt anders zugetragen hat. Sie hat das alles vergessen, fand es ohnehin banal (ja: unentrinnbar banal!), nie amüsant, nur lehrreich. Und jetzt, wo sie Klio dummerweise die richtige statt einer falschen Nummer diktiert hat – das Schicksal des Skrupels –, wird sie nicht umhinkommen, sich herausreden zu müssen.
„Es war toll, dich wiederzusehen, Helen. Paco wird im Sender erwartet, aber ich melde mich“, verabschiedet sich Klio. Wieder ein Kuss. Wie ein selbsthaftender Notizzettel verbleibt er an Helens Wange.
Paco hebt die Hand. Verstümmelter Hitlergruß. Helen erwägt, ob er ihr damit in Anspielung auf ihren unrühmlichen Großvater etwas sagen möchte. Natürlich nicht. Wie sollte er von ihm wissen? Nienhaus, der alte Nazi, war kein großes Tier für die Geschichtsbücher. Nur in der Stadt eine Nummer. Ob Paco überhaupt weiß, wer Hitler war?
Die beiden gehen weg. Auf der Straße ist es jetzt nachtblau, und Helen geht zurück ins Haus. Sie steigt langsam die Treppe hinauf, überlegt, wie viele Bekannte ein Durchschnittsmensch in seinem Leben hat – und das ist sie ja wohl, ein Durchschnittsmensch. Wie viele Begegnungen mit Namensnennung. Wie viele mit Telefonnummernennung. Wie viele Pläne. Und, vor allem, wie viele Umstände, die nur dazu da sind, Pläne anzupassen. Es ist eines ihrer Lieblingswörter. Umstände. Mit Joseph sind es immer besondere Umstände. So ruft sie ihn an, Klio dankbar, dass sie an diesem Tag, nach diesem Traum, einen Anlass hat, sich noch einmal seines Befindens zu vergewissern.
„Warum hast du es mir nicht gesagt, damals?“
„Was?“ Er klingt verschlafen.
„Dass du der Vater von Klios Kind bist.“
„Ist es zu fassen! Wo hast du die denn jetzt her? Noch dazu mit Nachwuchs?“
„Bei deinem mutmaßlichen Kind, das keins mehr ist, handelt es sich um den verkorksten Fernsehkoch Paco, falls dir das was sagt. Ich habe die beiden gerade auf der Straße getroffen, genau vor dem Haus meiner Eltern.“
Sie hört Bettwäsche rascheln. Er klopft ein Kissen auf, setzt sich und lehnt sich an. „Was für ein perfider Zufall! Die Schatten der Vergangenheit treffen auf dem Schulweg zusammen. Dem Trottoir erster gemeinsamer bürgerlicher Schritte. War sie nicht deine liebste Freundin? Habt Ihr euch nicht Briefe geschrieben, Geschichten sogar?“
„Ist das alles, was dir dazu einfällt? Ich verstehe nicht, warum ich dich nicht von Grund auf verabscheue. Macht es dich kein bisschen nervös, dass du möglicherweise, ich wage zu behaupten sehr wahrscheinlich, ein Kind hast? Die Ähnlichkeit zwischen diesem Narziss und dir ist unübersehbar. Frappierend. Ich bin noch ganz benommen.“
„Tatsächlich? Wie aufregend! Und daran machst du alles fest? An der Ähnlichkeit? Oder ist er auch so grundlegend verstört wie ich? Du wirst doch mit ihm gesprochen haben? Ich muss ihn mir ansehen. Wann ist er das nächste Mal mit seiner Dartscheibe im Fernsehen?“
„Deswegen rufe ich ja an. Heute Abend, wenn ich richtig verstanden habe. Klio meinte, sie müssten in den Sender. Wenn es eine Live-Show ist, dann kannst du ihn dir nachher ansehen. Was willst du tun?“
„Den Fernseher anschalten.“ Er gähnt.
„Und dann, Joseph? Was willst du dann tun?“
„Dann gehe ich in den Club. Oder wieder ins Bett. Ich bin entsetzlich müde dieser Tage. Es scheint ein Tief zu kommen. Ich werde wetterfühlig. Oder krank. Tatsächlich, ich glaube, ich werde alt und wetterfühlig.“
„Es könnte sein, dass du einen Sohn hast und du legst dich ins Bett und wirst wetterfühlig?“
Krank, denkt sie. Alt. Wetterfühlig. Herztod.
„Warum nicht?“
„Es kann dich nicht kalt lassen, dass du ein Kind hast. Das muss dich interessieren.“
„Liebe, es könnte sein, dass ich zig Söhne und Töchter habe. Lass uns realistisch bleiben. Kein Grund, in Panik zu verfallen.“
Er lacht und legt auf. Helen steckt das Telefon wieder in ihre Jackentasche. Einen Moment bleibt sie im elterlichen Eingang stehen und denkt an ihn. An seine Frauen. An seine zig Söhne und Töchter. Der Flur lang und braun seit Jahrzehnten. Trotz regelmäßiger Renovierung nie eine Veränderung. Der Flur sah schon so aus, als Helen Joseph kennenlernte. Er war fünf. Sie drei. Die Szene im Sandkasten. Es gab ihn schon vorher in ihrem Leben, auf Krabbeldecken und Flokatiteppichen. Aber ihre erste klare Erinnerung an Joseph ist der Sandkasten im Kindergarten, in dem er dem bulligen Dan „Susi sucht Wolli“ derart auf den Kopf schlug, dass dieser in seine beleibten Knie ging und heulte. Dann hat Joseph Helens halben Zeigefinger aus dem Sand gebuddelt. Nach einem Arzt und Tüchern geschrien für die Wunde an ihrer rechten Hand, verursacht durch einen Opel Blitz Feuerwehrwagen aus Blech und Dans verkehrsuntaugliche Handhabung desselben. In all dem Durcheinander, Schreck und Schmerz hat Helen nur Joseph gesehen, sich an seinem Blick festgehalten. Sie hat geblutet wie ein Schwein und ihn angesehen und gewusst, was kommen und wie es fortan zwischen ihnen sein würde. Sie weiß, dass er an diesem Tag braune Schlagcordhosen trug, ein braunkariertes Hemd, darüber einen beigefarbenen Pullunder, auf den oben links ein Hundesticker genäht war. An seiner linken Hand, in der er ihren abgerissenen Finger hielt, klebte ein gelbes Pflaster mit orangefarbenen Punkten. Sie erinnert sich daran, wie er nach der Übergabe ihres Fingerstücks an die blasswangige Kindergärtnerin zum heulenden Dan schritt. Sich die Hände rieb, als wolle er Dreck von ihnen abstreifen. Egal, wie viel du frisst, Dan, sagte sein Blick, es macht dich nie stärker als mich.
Joseph, ihr unerschrockener Retter, der die feindliche Übernahme ihres Fingerglieds so schlicht abwehrte wie später jedes Problem. Der moralischen Legitimation seines Tuns sicher. Er trug schon damals eine Brille. Gläser, die in eine rote, stoppschildförmige Fassung eingepasst waren. Und schon damals waren seine Haare dunkelblond, halblang, wild. Betrachtete man seine Bilder an der Kindergartenwand, war selbstverständlich, dass er einen künstlerischen Beruf ergreifen würde. War ein Haus für die meisten Kinder ein Kasten mit Spitzdach, vier Fenstern, Schornstein, Tür und Zaun, skizzierte Joseph, sofern gutmütig, eine Gründerzeitvilla mit Terrassen, Stuckornamenten, Erkern und Lorbeerbäumen. Er malte Schüsseln voller Gesichter. Verzerrte Wälder aus Wolken. Meere aus Feuer und Kieselsteinen. Später studierte er Design und arbeitete in einer Werbeagentur, bis er sich aufs Cartoon- und Comiczeichnen und gelegentliche Gemälde für zwei Galerien verlegte, die sich trotz seiner nur sporadischen Auftritte um ihn zankten. Joseph nahm seine Arbeit nicht ernst, und manche meinten, darin liege sein Erfolg. Allein Mister Blister war ihm ans Herz gewachsen: der hypochondrische, rothaarige Allgemeinarzt aus dem Comic. Mit einer Praxis voller Irrer in der Mengstraße sowie einer brasilianischen Helferin – und brasilianisch sagt alles über sie. Blister hatte jeden Freitag einen Auftritt in der Allgemeinen Zeitung und war als Sammelband inzwischen in Buchhandlungen zu kaufen. Hätte Helen Joseph damals im Sand für seinen Einsatz gegen Dan und das anschließende Absitzen der Strafe gedankt, er hätte bereits im Kindergarten geantwortet, was er in den folgenden fünfunddreißig Jahren immer antwortete: „Vergiss es, Liebe. Für dich immer.“
Im elterlichen Flur auf Augenhöhe das von einer Messingsonne umstrahlte Barometer. Daneben, in silbernen Alurahmen, drei Luftaufnahmen der Stadt vor den zweihundertundvierundsechzig Bombenangriffen. Aufnahmen von 1941 aus dem Flugzeug ihres Großvaters. Das Wohnzimmer, in dem Herr Nienhaus wartet, weiß. Raufaser. Außer seinem honiggelben Lieblingsstuhl am Fenster alle Möbel aus rötlichem Mahagoniholz. An den Wänden Wald- und Bergszenen. Bewölkt. Betulich. Über dem Esstisch ein Stillleben von Obst und Brot. Auf dem Tisch eine braun-weißkarierte Decke und Krümel dort, wo er ihren mit Radieschen garnierten Käsetoast gegessen hat. Ihr Vater hat sich auch heute, wie in den vergangenen drei Tagen, allein angekleidet. Zur steingrauen Wollstoffhose ein hellgraues Hemd und seine dickmaschige, blaue Strickjacke. Dazu schwarze Socken und feuerrote, glattlederne Hausschuhe. Päpstliche Füße. Seine Teetasse ist leer und das Fenster noch weit geöffnet, obwohl der Abendwind hereinweht. Helen schaut noch einmal hinunter auf den Bürgersteig. Alles beim Alten. Klio und Paco fort. Auf dem Balkon links Getränkekästen. Rechts ein grauer Blumenkasten mit Krokus. In der Luft Veränderung.
Sie schließt das Fenster, geht in die Küche und hält ein Glas unter den Wasserhahn. Ein Schluck Wasser. Alles zu viel. Die Nächte im Kindergästezimmer. Klio vor dem Haus. Paco. Und immer wieder Joseph. Einkesselung durch Bilder, Liege- und Lichtverhältnisse, Geräuschabfolgen. Knacken der Badezimmertür, Weißlicht durch Türritzen, Wasserrauschen. Oder: Morgenlicht durch Rollladenritz, Mülltonne auf Kopfsteinpflaster, verquirlte Rufe durch monotones Motorschnarren. Oder: Hagebuttenteeduft, Tagesschau, Heißluftwispern der Spülmaschine. Und immer wieder: Joseph. Herr Nienhaus scheint ihre nächtliche Anwesenheit überhaupt nicht zu benötigen. Sie hat auch nicht den Eindruck, dass er sie bei sich haben möchte. Aber ihre Mutter hat sie darum gebeten. Manchmal steht er nachts auf. Du musst darauf achten, ob du ihn fallen hörst; lass deine Tür einen Spalt offen. Nicht, dass er daliegt und nicht hochkommt, verstehst du? Noch ein Schluck Leitungswasser. Ihr Vater liegt in ihren Gedanken käfergleich am Boden. Arme und Beine in die Luft gestreckt. Möglicherweise ohne Hosen, weil er von der Toilette gefallen ist. Sie sammelt ihn in seinem gestreiften Pyjama vom Fliesenboden auf und schleift ihn auf dem Frotteevorleger zu Bett, wo sie ihm die Hosen wieder anzieht. Sie hat Herrn Nienhaus noch nie ohne Hosen gesehen.
Vogelgezwitscher durchs geschlossene Fenster. Im März besonders laut. Die Fauna hocherfreut über den Frühling. Gegenüber ein Parkwächter in leichter Jacke auf Feierabendrunde. Helen hat die Häuser in der kurzen, gepflasterten Gasse vor Jahren gezählt. Immerhin hat sie achtzehn Jahre hier verbracht und interessiert sich für derlei Zahlen. Etwa: Wie viele Kleintiere leben durchschnittlich in einem Quadratmeter Wiese? Wie viele Wege führen tatsächlich nach Rom? Wie schwer ist Schnee? Und: wie viele Tage werden die Erben ihrer Vermieterin anstandshalber verstreichen lassen, bevor sie Helen vor die Tür setzen? Sie hat die Häuser in der Zugasse vor etlichen Jahren gezählt.
Häuser und Bewohner, von denen die meisten längst gewechselt haben. Das Ergebnis von damals, achtzehn Häuser mit insgesamt vierundfünfzig Parteien und zirka einhundertunddreißig Personen, müsste überprüft werden.
Als ihr Handy klingelt, ist Helen sicher, dass es der abendliche Anruf ihrer Mutter aus dem Krankenhaus ist und es mit dem Vorlesen noch später werden wird. „Ich bin in einer Stunde auf Sendung“, sagt hingegen Paco, „darum muss ich mich beeilen.“
„Womit?“, fragt Helen verdutzt und stellt das Wasserglas in die Spüle. Sie ist stählern, silbern, makellos. Wie neu, als wäre es nicht immer schon dieselbe Spüle. Keine Kalkspuren. Nichts. Helen als Blondine aus dem Werbefernsehen. Gleich wird sie in dümmlicher Entgeisterung belächeln, dass die Spüle blitzblank aussieht. Erste Zeichen von Irrsinn. Vielleicht nur Verwirrung angesichts dieses Anrufs. Eine Fernsehassoziation scheint beim Anruf eines Fernsehkochs nicht verwunderlich.
„Mit der Einladung zum Abendessen“, antwortet Paco. „Du musst mit mir essen gehen, ich möchte dich kennenlernen. Und mit mir wird es interessanter als mit meiner Mutter, die eurer Jugend nachheult und langweiligen Kindermädchenquatsch erzählt. Was denkst du, H-e-l-e-n?“
Wie er es sagt, erinnert sie an eine Sturmböe, die ums Haus fegt. „Ich frage mich, wie Sie auf eine solche Idee kommen, Paco.“
„Schwingungen.“ Dann lacht er. „Ganz deutlich, nicht wahr? Wir wollen uns nichts vormachen, Helen, da waren sehr deutliche Schwingungen, und sie hatten nichts mit meiner Mutter zu tun, die im Übrigen keinen Sinn für Schwingungen hat.“
Helen ist so perplex, dass sie einen Moment braucht. Er wird ihr Zögern falsch interpretieren wie zuvor ihren Gesichtsausdruck, das ist klar und unabänderlich. „Es geht mir wie Klio”, gibt sie zur Antwort. „Ich habe nicht den Hauch einer Schwingung gespürt.“ Am Abfluss doch eine winzige Schürfwunde im Spülbecken. Eine Gebrauchsspur zumindest. „Ich gebe aber gern zu, dass ich noch einen Moment über Sie nachgedacht habe … über Ihren Vater, Paco.“
„H-e-l-e-n!“ Ob er wirklich annimmt, dass es verführerisch klingt? „Gleich zum Kern der Sache, was? Ganz Forscherin. Menschenleserin. Ich kenne ihn nicht, wie du zweifellos schon gehört hast. Aber geh mit mir essen und ich erzähle dir, was ich über ihn weiß.“
Jetzt muss Helen lachen. Woher soll er auch davon wissen? Von der Formlosigkeit des Lebens, dem schlechten Entwurf, den vorhersehbaren oder effekthaschenden Wendungen? Zu jung. Zu sicher. Zu ausgebucht. „Vielleicht sollte eher ich Ihnen was erzählen. Das ist unter Umständen erhellender.“ Genau: Unter sehr wahrscheinlichen Umständen. „Und was meinen Sie mit ̧Kindermädchenquatsch‘, den Ihre Mutter macht?“
„Sieh mal an.” Paco freut sich. „Doch Interesse. Und sehr verheißungsvolle Andeutungen! Wie du möchtest, Helen. Ich höre dir gern zu und dann sage ich zwei Sätze zum Kindermädchen.“
„Es spricht doch nichts dagegen, dass sich Klio um Sie kümmert. Wo Sie noch so klein sind und ausgerechnet in die verlotterte Fernsehwelt einsteigen mussten. Meine Antwort war im Übrigen ironisch. Hat Ihnen jemand beigebracht, was das heißt? Ich habe keineswegs vor, mit Ihnen essen zu gehen.“
„Wir werden sehen. Schau dir nachher meine Sendung an, Helen. Willst du das tun?“
„Ich würde nichts lieber tun, aber ich bin verabredet.“ Es klingt sperriger, als sie dachte.
„Du bist nicht verabredet und sie ist, wie du natürlich weißt, nicht mein Kindermädchen, sondern das von irgendwelchen Gören, mit denen sie von Forte dei Marmi bis Marbella am Strand brät“, sagt er trocken. Und dann noch einmal, erbärmlich, „H-e-l-e-n, schalt den Fernseher an, nachher.“
Keinesfalls verdient Klio als Kindermädchen ihr Geld. Sie macht irgendetwas Großartiges. Glamouröses. Oder sonnt sich wenigstens im Lichte eines berühmten Ehemannes. Zwei Stockwerke tiefer fällt die Haustür ins Schloss. Kurz vor acht. Oliver, der Taxifahrer. Er wohnt mit seiner Frau Lisbeth im Souterrain. Ist spät dran für die Nachtschicht. „Nichts zu machen“, sagt Helen ins Telefon, schüttelt den Kopf und schaut sich dabei im Küchenfenster zu. Im vergangenen Dezember hat sie Oliver mit einer sehr jungen, sehr schönen, sehr biegsamen Jamaikanerin im Theater an der Brücke gesehen. In der Kulisse einer heruntergekommenen Tankstelle mit verrosteter Zapfsäule stellte ein irisches Trio dort das Scheitern einer Ehe dar. Dass sich Oliver und die in einem verwrungenen Schneidersitz thronende Jamaikanerin nicht die Mühe gemacht hatten, für ihr Treffen ans andere Ende der Stadt zu fahren, hatte Helen nicht gewundert. Jonathan hatte seine spätere Ehefrau auf Helens Schreibtisch gelegt. Und Helen hatte tatsächlich drei lange Minuten in Betracht gezogen, dass die Spuren auf der Klarsichthülle mit den Kopien einer spätmittelalterlichen Bibelhandschrift von einem Joghurtdrink stammten, und davon gekostet. Dass es aber dieses Theaterstück sein musste?
Pacos Atem durchs Telefon. „Du wirst zugucken. Ich weiß es.“ Er hängt ein. Sicher ist er bereits im Studio. In der Maske. Eine Visagistin ist mit Puderquaste an seinem kantigen, milchweißen Gesicht zugange, während er seine Erregung unter dem schwarzen Frisierumhang aus Polyester versteckt. Es geht nichts über ein Klischee. Helen legt das Handy neben die Spüle. Die Dialoge des Theaterstücks, das sie mit Oliver und seiner Jamaikanerin gesehen hat, endeten zumeist mit einem irisch prononcierten Fuck, was der Tragödie – am Ende gab es zwei Leichen und eine Suizidkandidatin – allen Ernst nahm. Fohock. Im Stockwerk unter dem Bühnenraum lachten und tranken die Gäste in der Kneipe, man hörte sie und das Klirren ihrer Gläser in den dramaturgischen Pausen, etwa nachdem sich der Tankstellenwächter unter einen Lastwagen geworfen hatte. Das Motorbrummen kam vom Band. Fohock. Nichts sonst passt auf diesen Tag: Fohock. Achter März. Von Anfang bis Ende ein Alptraum.
Im Wohnzimmer ein Räuspern. Dezent. Nicht allzu fordernd, durchaus verständlich. Herr Nienhaus wartet seit zwanzig Minuten aufs Vorlesen. „War es nett, mit deiner Freundin Chloé?“
“Klio?“ Helen geht ins Wohnzimmer. „Ja. Wie so etwas eben ist. Überraschend nach langer Zeit; zu sagen hat man sich aber nichts.“ Seine Hände auf den Armlehnen. Angejahrte Haut. Runde Fingerkuppen. Schöne Halbmondnägel.
„Ist die Frage indiskret, welches Abendessen du so kategorisch ausschlägst?“
„Das Essen mit einem vor Leidenschaft kochenden Rotzlöffel.“ Sie setzt sich zu ihm: „Lass uns lesen.“
Roman
Hardcover
160 Seiten
Berlin University Press, 2011
[D] € 19,90, [A] € 20,50
ISBN 978-3-86280-001-8
Wer ist Joseph wirklich? Zweimal träumt die Bibliothekarin Helen seinen Tod so real, dass sie es schließlich für eine Weissagung hält. Der Exzentriker ist seit den Tagen im Sandkasten ihr Freund, jetzt fühlt sie sich wie seine Nachlassverwalterin zu Lebzeiten. Während sie in Abwesenheit ihrer Mutter den alten Vater betreut, versucht sie, vorsorglich Josephs Leben zu ordnen. Aber will ein Zyniker überhaupt mit sich und der Welt ins Reine kommen, Wahrheiten finden oder ist eher sie selbst auf der Suche? Helen trifft Martha, Josephs Mutter, und seinen unehelichen Sohn Paco, einen Fernsehkoch. Sie zieht Bilanz, setzt Schlusspunkte. Nimmt sie auch Abschied von ihrem Freund?
nominiert für den aspekte-Literaturpreis 2011