EINS
Wenig nur ist von grandioserer, von vollkommenerer Tristesse als ein Seebad am Ende des Sommers. Wenn die Strandliegen fortgeräumt sind, Rollladen die Fenster der Promenadenhäuser gegen das Salz des Meeres schützen und dichte Stille über den Straßen liegt. Wenn Parkplätze akkurat markiert frei liegen, eine Plane das Karussell am Marktplatz bedeckt wie ein buntes Tuch die Hand des Zauberers, ein vergessener Sandeimer im Rinnstein rollt. Wenn die Auslagen der Konditoreien und Traiteure nackt sind und desinfiziert, das Aushilfspersonal der Gastronomen die Quartiere verlassen hat und rostige Vorhängeschlösser an den Strandbuden die nächste Saison verheißen. Ich möchte, hatte Margaux bei einem unserer Abendessen theatralisch bekundet, am letzten Tag eines Sommers sterben. Nun. Sie ist nicht tot. Aber weder hätte ich noch hätten die vielen Gäste, die sie und ihr Mann Philippe in jenem Sommer bewirteten, jemals erwartet, dass die Dinge diesen Lauf nehmen würden. Ihr Haus wird heute nur noch vermietet – die Domaine de Tourgéville. Vor Jahren habe ich als potenzielle Interessentin versucht, die Dame von der Vermittlungsagentur auszuhorchen. Ich wollte herausfinden, wem das Haus, sofern es verkauft worden war, inzwischen gehörte, ob es unverändert war. Ich wollte die Domaine noch einmal bewohnen, noch einmal ihre chlorgebleichte Sonnenwärme riechen, wollte die Vergangenheit heraufbeschwören, erkunden, wie es sich anfühlen würde, nach all den Jahren aus dem Fenster meines damaligen Zimmers aufs Meer zu sehen. Aber sie war auf Monate hinaus ausgebucht. Und all meine Fragen liefen ins Leere. Diskretion sei ihr Kapital, ließ mich Mademoiselle Nanty mit spitzer Stimme wissen; Sie wissen schon: eine Stimme in Perlenkette und Blazer. Aber sie könne mir versichern, dass die Vermieter gewissenhafte, ordentliche Menschen seien, die Wert auf den besten Zustand ihres Anwesens legten, wie es auch die Agentur tue. Dass nanti vermögend heißt, entbehrt im Zusammenhang mit dieser Geschichte übrigens nicht einer gewissen Komik.
Von meinen Eltern habe ich vieles gelernt. Etwa die Schönheit der Natur zu achten und klassische Musik zu schätzen, keinen Schund zu lesen. Dass es sich nicht gehöre, im Bademantel zu frühstücken, und wesentlich sei, Menschen nie nach ihrer Herkunft oder ihrem Bankkonto zu beurteilen, sondern nach dem, was sie zu sagen haben. Dass Menschen, die anderes als meine Eltern sagten, schneller disqualifiziert waren, als sie ihre Telefonnummer hätten aufsagen können, war, Sie ahnen es, die Ironie hinter ihrem Edelmut. Zwar tendieren die meisten Menschen dazu, sich ihrer Weltsicht sicher zu sein, doch meine Eltern nannten es euphemistisch einen Standpunkt haben, und von ihrem wichen sie nie ab. Ich bezweifelte daher schon früh, dass man zu allem einen Standpunkt haben muss. Und ebenso früh fragte ich mich, wie andere Menschen meine Eltern sahen, deren Urteil über Nichtwissende, Kurzsichtige, Esoterische, Andersdenkende zuverlässig irreversibel und vernichtend war. Folglich hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, so wenig wie möglich zu urteilen und so gut wie keine Prinzipien aufzustellen, was, ist mir inzwischen klar, paradoxerweise auch als ein Prinzip betrachtet werden kann. Die Konsequenz dieser Haltung jedenfalls waren eine andauernde mangelnde Bereitschaft zur Festlegung, Begegnungen mit allerlei experimentellen Kunst- und Musikrichtungen und ihren jeweiligen Vertretern, daraus resultierend ein Hörsturz und drei Liebesbeziehungen, denen ich ein solides Wissen über Familienserien, Engelsforschung, Verschwörungstheorien und bewusstseinsverändernde Substanzen verdanke, wobei Letzteres wiederum für meine Bekanntschaft mit Trash-Literatur sorgte, die der Drogenfahrradkurier meines damaligen Freundes ebenfalls frei Haus lieferte. Das Ergebnis meiner Haltung waren überdies Begegnungen mit Freunden, die grundsätzlich im Bademantel, Schlafanzug oder gerade noch in Unterwäsche frühstückten, sowie überhaupt: Begegnungen mit unzähligen Menschen. Zweifellos war aber die wichtigste Konsequenz aus meiner Haltung das Wissen um all ihre Geschichten. Denn meine Gewohnheit erschloss mir unbeabsichtigt vielerlei Offenbarungen. Ich hörte zu. Und ich tat dies aus einem einzigen, mir erst seit dem Sommer in der Domaine de Tourgéville klar vor Augen stehenden Grund: Ich fürchtete, unter all jenen, die mir begegneten und die mir unaufgefordert ihr Innerstes offenlegten, den einen Menschen zu versäumen, der mir wirklich etwas zu sagen hatte. Und in dieser Aussage liegt doch ein Urteil, Sie haben recht: Apfel. Stamm. So ist es wohl.
ZWEI
Margaux kam meiner Vorstellung dieses einen Menschen sehr nah. Ich erinnere mich an unser erstes Telefonat. Bestimmt wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn Sie eine fremde Stimme hören und den Menschen, dem sie gehört, sogleich sympathisch finden. Es war die ruhige, konzentrierte Art, in der sie sprach. Es war die Tonlage, die sich melodiös in meine Ohren und Gedanken legte, und es war der Inhalt unseres Gesprächs, in dem sie nicht nach Referenzen oder meiner Ausbildung fragte, sondern nach dem Buch, das ich gerade las. Es war Das Jahr der Liebe von Paul Nizon, das mir einer meiner Dozenten ans Herz gelegt hatte, und durchs Telefon hörte ich sie lächeln. Zweiunddreißig Jahre ist das her. Ich hatte gerade das Studium beendet, stand vor meiner ersten Anstellung und war nach der intensiven Unizeit der festen Überzeugung, fürs Erste genug gehört zu haben. Für eine Weile wollte ich so wenig Geschichten wie möglich. Kommilitonen, selbst die langweiligsten und unzugänglichsten unter ihnen, hatte ich durch Lebens-, Lern- und Liebeskrisen begleitet. Meine Freizeit hatte ich mit politischen Aktivisten verbracht, die – was damals sehr in Mode war – auf Demos und Plakaten für und gegen Globalisierung, China, Amerika, Europa, Mindestlöhne, Steuererhöhungen, Autobahngebühren kämpften. Mit Sozialengagierten, die für Flüchtlinge, sämtliche Religionsgruppen, Schwule, Frauenrechte, Missbrauchsopfer, Senioren, Ausländer und Kindergärtner Flagge zeigten. Mit Naturschützern, die für und gegen Atomstrom, Solarenergie, Windräder, Flugverkehr und Elektroautos Vorträge hielten. Mit IT-Experten, die für oder gegen das Aufweichen des Urheberrechts, Fitnessuhren, Big Data, Handykameras, Versicherungs-Apps und den Überwachungsstaat zu Felde zogen. Wirklich überall auf der Welt war in jenen Jahren etwas los, allerorten demonstrierten die Menschen oder gingen auf die Barrikaden. In Hongkong wegen eines Auslieferungsgesetzes, in Spanien wegen der Abspaltungsbemühungen der Katalanen, im Libanon zunächst wegen der geplanten Besteuerung einer Kommunikations-App und dann gegen die Regierung an sich, in Ecuador wegen Sparmaßnahmen, in Chile wegen der Fahrpreise für Busse und U-Bahnen, in Ägypten und Brasilien wegen Korruption, in England für und wider den Brexit, in Griechenland pro und contra Flüchtlingshilfe, weltweit fürs Klima, in meiner Heimat Deutschland gegen Neonazis und in meiner Studienheimat Frankreich in gelben Westen gegen die Rentenreform und überhaupt alles – die Franzosen tragen die Revolution nun mal in den Genen. Manchmal, gewiss nicht in allen Fällen, waren die Anlässe in Relation zum Ausmaß des Zorns überraschend klein. Allen Protesten gemein aber schien zu sein, dass sich in ihnen über den jeweiligen Anlass hinaus etwas entlud. All diese Bewegungen, habe ich damals in einer Zeitung gelesen, und es ist mir in Erinnerung geblieben, waren kopf- und führerlose, damals noch per Smartphones gesteuerte Netzwerke, kollektiv improvisiert: Jazz, keine Klassik. Jeder versuchte und suchte irgendetwas, in Wahrheit aber, so mutmaßte der Autor, in einem Überangebot von Angeboten und einer nachlassenden Nachfrage nach relevanten Nachfragen vor allem seine eigene Bedeutung in der Welt. Aus heutiger Sicht muss ich zugeben: Seine Analyse traf damals viel mehr noch auf mich zu als auf meine protestierenden Freunde.
Für mich war diese Zeit wie ein Intensivkurs in verschiedenen Fremdsprachen, und ich war begierig, sie zu lernen. Überall wollte jemand etwas loswerden, etwas erzählen, sich erklären, verbünden, rechtfertigen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Welt lief auf Hochtouren. Mir begegneten wunderbar engagierte Menschen. Ich saß nicht unbeteiligt oder beliebig als Voyeurin bei ihnen, habe nicht nichts gesagt, sondern immer meine Meinung zum jeweiligen Thema, nie aber meine Meinung über sie; ich habe Themen, nicht die Menschen beurteilt, die mit ihrem Engagement auch Gemeinschaft in Zeiten zunehmender Einsamkeit suchten. Meine Kommilitonen und Freunde stellten sich nach Kräften den Fragen der Zeit des mit neunzehn Jahren noch jungen Jahrtausends; sie schritten beispielhaft voran, Dinge zum Besseren zu verändern oder zumindest zu denken. Aber für mich waren sie durchsichtig, transparent wie Glas. Durch sie hindurch wurden die Dinge sichtbar, nicht in ihnen.
DREI
Margaux und Philippe Leclerc, von denen ich erzählen möchte und die auf den ersten Blick für alles zu stehen schienen, was ich nach den Studienjahren hinter mir lassen wollte, ausgerechnet also Margaux und Philippe – sie eine sechsundfünfzigjährige Schriftstellerin, er ein zweiundsechzigjähriger Geschäftsmann, der die Vermögen diskreter Familien verwaltete – boten mir den Sommerjob an, der meine Reise finanzieren sollte. Bevor der Ernst des Lebens begann, wie meine Eltern nicht müde wurden, mir das Berufsleben perspektivisch zu vermiesen, hatte ich geplant, mehrere Länder zu besuchen, die vor meiner Haustür lagen, von denen ich jedoch so gut wie nichts wusste. Dass ich diese Reise letztlich nicht antrat und von unserem Kontinent daher lange nur das damals für Westeuropäer Übliche kannte, dass ich also statt zwei Monaten vier mit Margaux und Philippe in der Normandie verbrachte, ausdrücklich gegen den Wunsch meiner Eltern, die nicht einsahen, warum eine vierundzwanzigjährige Hochschulabsolventin als Hausmädchen bei vermutlich neureichen Gesellschaftslöwen anheuern sollte, habe ich nie bedauert. Heute staune ich über die eigene Fehleinschätzung meiner Motive: Damals hielt ich mich für selbstbewusst und progressiv, tatsächlich aber war ich unbedarft. Mir war überhaupt nicht klar, worauf ich mich einließ und was ich in solcher Nähe zu Fremden würde erleben können. Als ich in der Domaine de Tourgéville anfing, bildete ich mir wie die meisten meiner Kommilitonen aus dem Literaturstudium ein, eine Menge zu wissen, immerhin liefern Bücher nahezu alles an Lebensgeschichten, was man sich nicht vorstellen kann. Zweifelsohne aber lernte ich erst bei Margaux und Philippe fürs Leben, und zwar mehr, als es Schul- und Studienabgängern von wohlmeinenden Direktoren, Lehrkräften, Erziehungsberechtigten, Tanten und Onkeln bei Abschlussfeiern salbungsvoll gewünscht wird. In diesem Sommer begegneten mir viele Nationalitäten, Mentalitäten und Perspektiven am Tisch meiner Arbeitgeber. Wissbegier, Interesse und Einfühlungsvermögen zeigten sich in der Gastfreundschaft der Leclercs. Es gab entspannte, herzliche, manchmal glanzvolle, gelegentlich verrückte Nachmittage und Abende, während derer sich mir ihr großmütiger Geist offenbarte. Nichts empörte sie, jede Meinung und Ansicht war willkommen und wurde respektiert; sie hörten zu, wo meine Eltern energisch widersprochen oder abschätzig den Kopf geschüttelt hätten. Der Sommer in der Normandie lieferte mir mannigfaltige Eindrücke und Einblicke in eine Welt, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Sorgenfrei und perfekt, dachte ich erst beglückt, später misstrauischer. Unbeschwert, in Saus und Braus schwelgend. Margaux und Philippe öffneten Tür und Tor im wörtlichen wie im metaphorischen Sinne, sie schillerten in ihrem Willen zum Glück. Einem Willen, wie er mir seither nie wieder begegnet ist. Sie mochten Gesellschaftslöwen sein, was immer dieser Ausdruck bedeutet. Mich faszinierten sie. Worauf ihr Geld und ihre Möglichkeiten gründeten, kümmerte mich nicht. Was mich bei ihnen hielt, war ihre Offenheit, ihre Freundlichkeit, ihr Interesse an Menschen. Vor allem aber waren es die Fragen, die sich mir schließlich aufdrängten, die sich ihren Gästen aber erstaunlicherweise nie stellten. Diesen Heerscharen von Parasiten und Nutznießern, die das Paar am Ende jenes Sommers in die Flucht jagten und mir eine Idee nahmen, die zurückzuholen ich entschlossen bin. Denn diese Idee war keine Illusion, davon bin ich heute, so viele Jahre später, immer noch überzeugt.