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Immer noch keine Nachricht aus der Redaktion. Caren betrachtete das Handy auf ihrem Schoß. Sie konnte Julien anrufen. Einfach anrufen nach all den Monaten. Daran war nichts Merkwürdiges, nichts Aufdringliches. Im Gegenteil: Nach den Geschehnissen am Vorabend in seiner Stadt war es vielmehr freundlich. Eine Geste. Zuletzt hatte sie ihn in Paris bei der Demo gesehen, zwei Tage nach ihrer gemeinsamen Nacht im Hotel. Die Demonstration. Der Republikanische Marsch. Das Ritual von Entsetzen, Empörung, Vergessen, das sicher auch diesmal zu erwarten war. Präsidenten, Kanzler, Minister, Familienangehörige, Pariser, Touristen, weit über eine Million Menschen. Im Januar marschierten sie vorbei an Weihnachtsbäumen, die noch keiner weggeräumt hatte. Weihnachtsbäume, wie sie in Paris vermutlich erst vor wenigen Tagen erneut aufgestellt worden waren. Vorbei an Flaggen, die auf Halbmast wehten, an Mülltonnen, die ein Großaufgebot von Polizisten nachts überprüft und dann versiegelt hatte, an Geschäften, deren Inhaber die weißen Plakate mit der schwarzen Aufschrift Je suis Charlie in ihre Fenster gehängt und die früher – also vorher – nichts mit den Ermordeten und ihrer Zeitschrift zu tun gehabt hatten. Die wenigsten wären auf die Idee gekommen, Geld für dieses Blatt auszugeben. Und unter anderen Umständen hätte der Präsident Frankreichs die Redakteure und Zeichner der Zeitschrift auch niemals umarmt. Julien hatte fotografiert. Müde war er gewesen. Ab und zu hatte er Caren angesehen, lang und eindringlich, sie stand neben ihm in der Nähe der Métro-Station Voltaire, umnebelt von dem gewaltigen Marsch für Frieden und Freiheit und der Frage, wie lange er nachhallen würde, ob die Nachkommen von sieben Millionen Einwanderern in Frankreich mitdemonstrierten oder doch zu Hause geblieben waren, weil dieser Januar schlimmer machte, was ohnehin schon schwierig genug war. Einmal strich Julien Caren eine blonde Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr, langsam und zart; sie glaubte, dass er sie küssen würde, und belächelte, dass sie darauf hoffte, aber da schrie der Maronenverkäufer an der Ecke hinter ihnen: Was ist mit den Syrern und den Palästinensern? Wieso demonstriert ihr nicht für die? Wofür demonstriert ihr überhaupt? Solidarität? Dass ich nicht lache! Dass ich nicht lache! Zwei Polizisten schoben ihn mit seinem Maronenwagen in eine Seitenstraße. Caren ging ihm nach. Er erzählte ihr von seinem Ghetto, so nannte er den Vorort Sarcelles, in dem er wohnte. Davon, dass man Religion nicht auf der Straße, sondern in den Schulen lernen sollte, davon, dass in den siebziger und achtziger Jahren – damals, sagte er – alles besser gewesen war, durchmischter, da lebten Afrikaner, Araber und Franzosen Tür an Tür in den Vororten und man machte nicht so ein Theater um die Religion. War halt so. Dann sind die Franzosen weg. Überhaupt alle, die es sich leisten konnten, sind dann weg. Und so wurden wir ein Ghetto wie alle möglichen Vororte und Viertel von Paris. Gehen Sie nach Château Rouge, nach Saint-Denis. Man bleibt unter sich, und wir sind hier nicht bei uns. So ist das. Die da, er deutete mit dem Kopf in Richtung Demonstration, die machen den Religionskrieg! Eine Stunde später stieg Caren in den Zug und verließ Paris; ungeküsst und übermüdet nach einer Nacht, in der sie kaum geschlafen hatte, übermannt von Ratlosigkeit, herabkommenden Zimmerdecken und einer Trauer, die Juliens Schattenhaftigkeit so miteinschloss wie die Toten, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren und deren Angehörige niemals damit fertigwerden würden, dass diese Phrase wahr oder falsch sein konnte, dass sie niemals wissen würden, ob es Fügung, Schicksal, Bestimmung gewesen war, zu dieser Zeit an diesem Ort – oder eben nicht dort – gewesen, davongekommen zu sein. Sich schuldig gemacht zu haben.
Die Januartage nach ihrer Rückkehr neblig und von beträchtlicher Unruhe. Das Wiedersehen mit Ben am selben Abend zwiespältig und fragwürdig. Sie hatte ihm nicht gern in die Augen gesehen, ihn nur ungern geküsst, als könne sein Mund die Erinnerung an Juliens zersetzen. Sie mochte ihm nicht vom Zufall erzählen, an den sie nicht mehr glaubte, denn in seinen Augen gab es ohnehin keinen Zufall, nur den göttlichen Plan, von dem Caren nichts, nein, von dem sie gar nichts hielt. Ben umarmte sie bei ihrem Wiedersehen fester als sonst, vielleicht kam es ihr auch nur so vor, es störte, er küsste ihre Schultern und ihren Nacken, auch das störte, er umfasste ihre Brüste und ließ sie nicht los, das war unbequem, er liebte sie, aber so fühlte es sich nicht an – wobei sie nicht einmal zu sagen vermochte, ob es sich je anders angefühlt hatte –; er hielt sie für überarbeitet, und sie schloss die Augen. Am nächsten Morgen stellte er seine blaue Zahnbürste im Badezimmer ab, wie er es immer tat, rechts an ihrem Waschtisch, er steckte sie einer Amtshandlung gleich in den weißen Porzellanbecher zu seiner Zahncreme. Sie starrte auf das Utensil, stets blau, stets dieselbe Marke, alle drei Wochen neu, und erinnerte sich an den Anfang. Wenn es dich nicht stört, hatte er damals gesagt und den Satz mit einem verschwörerischen Leuchten umschlossen, einem jungenhaften, verliebten, verbindlichen Leuchten, das sie gerührt und eine betörende Macht über sie ausgeübt hatte, wenn es dich nicht stört, lass die Sachen, die ich dann und wann bei dir vergesse, genau da, wo ich sie abgelegt habe, so bin ich immer bei dir, immer in dieser Wohnung, zumindest ein wenig. Ein Ritual, das ihr nach Paris und dieser Nacht vollkommen sinnentleert erschienen war. Ein Pullover über der Stuhllehne. Ein aufgeschlagenes Magazin neben dem Sofa. Seine Kopfschmerztabletten, wichtiges Alltagsaccessoire, auf dem Nachttisch. Zweimal hatte Caren das Ritual durchbrochen, und Ben war es tatsächlich aufgefallen.
Als er an diesem Morgen seinen Espresso zu sich genommen hatte (kein Brot, kein Müsli, kein Obst, nur Espresso) und ging, war sie erleichtert und wusste nicht, worüber. Sie war unzufrieden und wusste nicht, womit. Denn eigentlich gab es nichts auszusetzen an ihrem Leben, an ihrem wohlsortiert liberalen Leben. Sie war glücklich mit ihrem Beruf. Sie hatte ihre Familie, die so kompliziert und durchschaubar war wie die meisten Familien. Sie hatte eine Handvoll Freunde, die waren, wie Freunde sein sollten. Und natürlich hatte sie Ben, der am anderen Ende der Stadt wohnte und mit dem sie diese festen Tage hatte: Dienstag, Donnerstag und, alle drei Wochen, Samstag. Sie hatten ihr Arrangement zu dritt und trafen damit in ihren Vorstellungen von Unabhängigkeit zusammen. Sie wollten keinen Trott und keine halbherzigen Absprachen, sie wollten keinen Alltag und keine Lügen, die unweigerlich in ihn einzogen, kein Gerede von Kompromissen, die keine waren, weil in Wahrheit einer nachgab und es irgendwann bereute, wollten nicht, dass die Wucht der Liebe in Bedrängnis umschlug, dass aus Leidenschaft Langeweile oder Pflichtbewusstsein wurde. Anziehungskraft und Liebe, davon waren sie beide, nein: alle drei überzeugt, waren geblieben, weil Caren und Ben nie zusammengezogen waren, sich nie über Ordnung und Geldausgaben und Möbel und Bilder auseinanderzusetzen hatten, so wenig wie Ben mit Adelle zusammenziehen würde, der anderen Frau, die Caren sogar sympathisch war, in einer Galerie in der Albemarle Street arbeitete und ihr zum Geburtstag Blumen schickte. Dass es Adelle gab, hatte eine beflügelnde, erotisierende Wirkung, so unvorstellbar ihre Existenz Caren anfangs erschienen war. Doch dass Ben ein anderes Leben hatte, eines, an dem sie keinen Anteil, in dem sie nichts zu suchen, nichts zu entscheiden, nichts zu tun hatte, gefiel ihr, so, wie es reizvoll war, einen Menschen zu entdecken, nicht zu wissen, wie sein bisheriges Leben ausgesehen und was es ausgemacht hatte. Zwischen ihnen beiden gab es nicht, was viele Paare wie eine Auszeichnung auf ihrem Revers trugen: den anderen in- und auswendig zu kennen, seine Marotten, seine Ticks, seine Gewohnheiten. Es waren die Leerstellen, die ihre Liebe definierten. Sie hatte keine Ahnung, wie Ben seine Zeit ohne sie verbrachte, wer seine Eltern waren (einfache Leute aus Maresfield, East Sussex, hatte er gesagt, und es hatte sie verblüfft, wie unbeteiligt er es formuliert hatte). Sie hatte keine Vorstellung davon, wie sein Büro aussah, wo und was er mittags mit seinen Kollegen aß, wie er sich auf den Betriebsausflügen der Bank gebärdete, wie Ben und Adelle ihre gemeinsamen Stunden füllten, worüber die beiden sprachen, wie sie sich liebten, was sie aneinander nervte. Es gab sein Leben. Und es gab ihr Leben. Ihre Liebe glich einem ständigen Anfang – bisher zumindest hatte sie es so gesehen, so sehen wollen, selbst wenn Rituale und feste Tage und Ticks wie blaue Zahnbürsten wenig Anfängliches in sich trugen. Nein, der Geschichte mit Julien war keine Bedeutung beizumessen, sosehr es sie beschäftigte, dass sie sich folgenschwere Anfänge mit ihm wünschte. Diese ersten Male. Zum ersten Mal gemeinsam spazieren gehen, Hand in Hand. Zum ersten Mal zusammen essen gehen, als Liebespaar. Zum ersten Mal nebeneinander im Badezimmer stehen, in Handtücher gewickelt. Zum ersten Mal miteinander verreisen und sehen, was der andere in seinen Koffer packt. Alltäglichkeiten, denen sie mit Ben aus dem Weg ging, sorgfältig darauf bedacht, das Glück nicht in Verbindlichkeiten zu verheddern. Sie waren noch nie miteinander verreist, verbrachten ihre Ferien stets getrennt, waren nicht einmal ein Wochenende aufs Land gefahren, was man doch früher oder später machte, eigentlich, vor allem in den Sommermonaten, wenn die Hitze in der Stadt unerträglich wurde und der Wind über den Feldern von Oxfordshire oder an den Küsten von Kent und Cornwall Erfrischung bot. Sie wusste, dass Maresfield, East Sussex, nicht am Meer, sondern eine Autostunde entfernt von Brighton und Newhaven lag; sie wusste nicht, wie oft Ben seine Eltern besuchte oder ob er mit ihnen an heißen Sommertagen an den Strand fuhr. Ihren gelegentlichen Fragen nach solch landläufigen Dingen wich er nicht aus, aber er beantwortete sie knapp und prosaisch, als wolle er alles Gewöhnliche von Caren fernhalten, als sei das Lückenhafte ihrer Verbindung das, was sie trug. Nein, es war alles perfekt. Es war alles, wie sie es haben wollte. Es gab nichts auszusetzen an ihrem Leben. Julien war kein Beginn, würde ein einziges Mal bleiben. So etwas passierte. Und manchmal passierte es sogar Menschen wie ihr, denen so etwas nie passierte. Sie musste ihn sich nur wieder aus dem Kopf schlagen, so schwer sich das in den vergangenen zehn Monaten gestaltet hatte.
Am Sonntag nach der Demonstration in Paris hatte Julien sich von ihr verabschiedet, als wäre nichts gewesen. Er, der nur wenig von ihrem Leben in London wusste, war klug genug, sie nicht anzurufen, keine Nachrichten auf ihr Handy zu schicken, sie nicht überraschend aufzusuchen. Hatte möglicherweise gar kein Interesse daran, sich bei ihr zu melden, ihr Nachrichten aufs Handy zu schicken oder sie überraschend aufzusuchen. Doch seinen Blick – vorher, nachher, währenddessen – hatte sie vor Augen, nach wie vor; er berührte sie noch in der Erinnerung mehr, als gut für ihre Nerven war. Sie konnte fühlen, wie Julien sie zur Begrüßung umarmte, dabei seine Hand auf ihren Rücken legte. Durch all den Stoff, den sie an diesem Januartag getragen hatte, fühlte sie seine Hand, die nicht sacht ihr Schulterblatt antippte, wie es bei einer schicklichen, freundschaftlichen Begrüßung zwischen Männern und Frauen geschah, sondern ihren Rücken in Taillenhöhe umfasste, ihren Körper an seinen zog und hielt. Die Hand im Rücken ein Versprechen, das sie einlösen oder verfallen lassen durfte. Es war, dachte Caren, nur eine Frage der Zeit gewesen; vom ersten Augenblick an waren sie nicht sicher voreinander gewesen. Bei manchen Begegnungen wusste man das sofort. So alt wie die Menschheit: die Verführung zum Wagnis. Das etablierte Glück aufs Spiel zu setzen für das Neue, das Andere, die Intensität, die Caren zu leben geglaubt, aber in Julien erst entdeckt hatte, diese verfluchte Intensität seines Blicks, diese Aufmerksamkeit, seine Unbestechlichkeit. Seine Bewegungen, sein Geruch, sein Atmen, sein Rhythmus, all das verfolgte sie, erinnerte sie jeden Tag an ihn, kam ihr bei der Verrichtung alltäglichster Dinge in den Sinn, woraufhin sie innehalten, sich der Irritation überlassen musste, denn es half nichts, als sie zuzulassen, diese Gravuren, die er im Vorbeigehen hinterlassen hatte. Sie spulte die Bilder vor und zurück, bis sie den Kopf schütteln musste, um sie loszuwerden. Überspannt, natürlich! Es war keine Affäre, weit entfernt davon; und es war gefährlich, sich hineinzusteigern, weil zu viele Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden konnten – Zivilisten, das Wort fiel ihr ein –, und das ging nie gut aus, wusste man doch. Es war schon gefährlich, eine Affäre auch nur zu denken. Und es half auch nicht bei sinkenden Zimmerdecken, im Gegenteil, es rief sie vermutlich hervor.
Vor Paris hatte Caren es nicht für möglich gehalten, Stunden mit Starren zuzubringen, auf ihrem Bett oder sonst wo. Was für eine Zeitverschwendung! Was für eine erbärmliche Lethargie! Carens Tage waren ausgefüllt, gleichwohl unendlich gewesen, so, wie ihr das Reservoir an Möglichkeiten der Lebensgestaltung unerschöpflich erschienen war. Da war sie ganz ihr Vater, der als Mitarbeiter des Auswärtigen Dienstes Großbritanniens die Familie zu jeder noch so weit entfernten Station seines Berufslebens mitgeschleppt und alle drei Kinder gelehrt hatte, immer das Beste aus der Situation zu machen. Alle paar Jahre neue Schulen, neue Freunde, neue Umgebungen. Erst Brasilien, von dort nach Amerika, wo ihre französische Mutter einfach nicht glücklich werden wollte, dann Frankreich (der Mutter zuliebe), noch einmal Amerika (ihre Mutter schlug sich tapfer), schließlich wieder England. Trotz der intensiven Erfahrung zeitlicher Rahmen für jeden Ort, der vorhersehbaren Endlichkeit dieses oder jenes Alltags hatte Caren nie befürchtet, die Zeit für bestimmte Angelegenheiten sei begrenzt. Im Gegenteil, sie hatte immer die Überzeugung vertreten, dass es für nichts jemals zu spät war, man früher oder später auf das eine oder andere zurückkommen konnte, so, wie man sich vornahm, im Ruhestand Ulysses zu lesen oder in den nächsten Ferien den Kilimandscharo zu erklimmen. Du glaubst wirklich an Zufall?, hatte ihre Mutter gefragt, damals, als sie in New York wohnten und Caren ihr Praktikum bei WABC TV überlebt hatte. Natürlich, hatte Caren geantwortet, selbstverständlich ist es nichts als Zufall, dass ich in diesem Moment zwei Blocks weiter an der Murray Street vor einem Bagelwagen stand und gegrillte Pute mit Remoulade für meine Kollegin Marcy im Schneideraum bestellte. Frag Vater, erwiderte ihre Mutter, frag Vater, er sieht es wie ich. Das war kein Zufall. Ich danke Gott auf Knien, dass du in diesem Moment zwei Blocks weiter vor diesem Bagelwagen gestanden hast. Da hat dich jemand beschützt, das sollte so sein. Und Caren hatte überlegt, tage- und wochenlang gedacht: Gott? Was für ein Gott sollte das sein, der mich beschützte und die anderen nicht?