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Teil aus Kapitel 1
Er hatte seine Orientierung verloren. Das war kein räumliches Problem. Daniel Tafts Sinne waren gestört. Er, der immer seinen Weg gekannt und grundsätzlich die Richtung gewusst hatte, taumelte durch die Tage. Zuerst wurde ihm die Zeit gleichgültig, kurz darauf fanden seine Gedanken keinen Halt mehr, weder Ruhe noch Richtung. Taft bemühte sich, aber es gab kein Sujet, das sein Gehirn in Schach halten konnte. Dabei lagen die Themen auf der Straße. Mehr als genug. Nur fassbar waren sie nicht mehr. Unfassbar stattdessen ohne Veronika, seine Frau. Nichts wusste er mehr einzuordnen seit jenem 16. Juli, an dem sie verschwunden war. Keine Kategorien mehr für all die Angelegenheiten. Alles gleich interessant und uninteressant. Alles wichtig, alles unwichtig. Daniel Taft hatte die Urteilskraft verloren. Er war seinen Empfindungen ausgeliefert.
Aus diesem Grund eröffnete er ein Geschäft. In Veronikas Heimatstadt, vom Zentrum nicht weit entfernt. Alte Straße. Ein zwanzig Quadratmeter kleiner, für eine geringe Summe zu mietender Raum im Erdgeschoss eines denkmalgeschützten Hauses. Renovierungsbedürftig. Ohne funktionierende Heizung. Der Laden roch nach Leder, Wachs und Fetten; vorher hatte dort ein Schuster Schuhe besohlt, genäht, repariert. Das Schaufenster ausladend und in schwarzem Holz gefasst, der Dielenboden braunschwarz und knarzend. Von der Decke und an den rauchblauen Wänden hingen nun grüne Karten an zarten, tannenfarbenen Bindfäden. Ideenkarten nannte Taft die mit schwarzem Filzstift beschrifteten Kartons. Sie waren das Einzige, was er feilbot. Drei fünfzig das Stück. Karten, auf denen in seiner rechtsgeneigten, gut lesbaren Handschrift immer nur ein Wort zu lesen war. ‚Zerinnerung‘ etwa. ‚Raumfährtensucher‘, beispielsweise. Oder schlicht ‚Mut‘. Die meisten Anwohner und vor allem er selbst hatten angenommen, der Laden mit Namen Theorie würde nicht lange bestehen, sei Spinnerei. Ein Luftschloss, das sich keinesfalls tragen könne, geschweige denn Gewinn abwerfen würde. Themen – nichts anderes bot er mit seinen Karten. Überschriften und Ideen. Bereits zur Eröffnung Ende Januar hatte Taft den Plan, Theorie mit seinen Ersparnissen und den Einkünften aus der Vermietung seiner Pariser Wohnung ein paar Wochen am Leben zu erhalten und dann, je nachdem, in eine lukrativere Kaffeebar oder einen Kiosk umzuwandeln. Doch Zeitungen im ganzen Land berichteten über seinen Laden, Fernsehleute filmten, wovon sie tagtäglich umgeben waren: Themen, die in der gewaltigen Masse anderer Themen untergingen. Die Wirkung ihrer Berichte hallte nach. Als sich der Wirbel um die Eröffnung in der Alten Straße gelegt hatte, kamen die Kunden immer noch. An guten Tagen in diesem warmen und trockenen Frühjahr verkaufte Daniel Taft über fünfhundert Karten. An ruhigen zwischen achtzig und hundert. Man setzte sein Geschäft auf die Route der Touristenbusse, die von der Kathedrale aus die Straßen der Alt- und Neustadt durchfuhren. Mindestens zwei Busladungen pro Tag. Die Passagiere stierten aus getönten Fenstern, machten die Ruinen römischer Vergangenheit und verborgene architektonische Schönheiten zwischen den Nachkriegsbauten aus,bis sie bei Taft landeten und ihre städtebauliche Ernüchterung mit Kauflust niederrangen. Eine Journalistin, die auf diesem Wege zu ihm gestoßen war, schrieb euphorisch in einem schicken Reisejournal, Theorie sei nicht weniger als die Endstation Sehnsucht einer Rundfahrt durch die etwas ergraute Baukunst der 1950er- und 1960er-Jahre. So zählten bald auch die anderen, die sogenannten Individualreisenden, zu seinen Abnehmern und kauften Themen. Meist eins, höchstens fünf, wobei Nummer zwei bis fünf als Geschenk verpackt werden sollten.
Die Anwohner kamen sowieso regelmäßig. Und kaum einer von ihnen stand Theorie gleichgültig gegenüber. Sie waren neugierig wie der Mittvierziger aus dem dritten Stock gegenüber, der etliche Male pro Tag von seinem Schreibtisch am Fenster in Tafts Laden schaute, um dann, auf dem Weg zum Bäcker oder zur Post, bei Theorie einzukehren und sich mit spitzer Stimme nach dem Gang der Geschäfte zu erkundigen oder eine Karte, zuletzt war es ‚Nachgeschichte‘, zu kommentieren. Andere waren argwöhnisch. Susa zum Beispiel, die Trödelladenbesitzerin drei Häuser weiter, die unschlüssig blieb, ob Taft genial oder irre war, ob er ihr Laufkundschaft abspenstig machte oder zuführte. Und viele kamen einfach aus Langeweile. Anton Friedenreich mit der sehr hohen Stirn beispielsweise, Rentner aus dem Nachbarhaus, der in seinen ausgeleierten Jeans täglich schon bei Tafts Vormieter gesessen und mit ihm Zigarre geraucht hatte. Er hatte runde, braune Augen und schlohweißes Haar, das bis zum Kinn reichte, ein weißes Bärtchen direkt unter der Unterlippe und einen weißgrauen Schnauzbart. Auf seiner daumendicken Nasenspitze die schwarze Metallbrille, durch die er allerdings selten blickte, er sah über sie hinweg. Nun nahm er sich Tag für Tag den hellblauen Klappstuhl, den der Schuster im Vorraum zur Toilette aufbewahrt hatte, setzte sich vor Tafts Schaufenster, bekam einen Kaffee, zündete sich eine Montecristo Double Edmundo an und begann die Unterhaltung stets gleich: Wissen Sie, Herr Taft, es ist schon komisch … Und dann folgte, was ihm morgens beim Zähneputzen oder abends im Fernsehen komisch erschienen war: die glitzernden Punkte in seinem Rasierschaum, die Sekundenanzeige bei den Werbeeinblendungen, die Temperaturunterschiede zwischen Alt- und Neustadt, irgendetwas, das ihm beim Blick über seine Brille aufgefallen war. Die hagere Julchen Kierbaum aus dem Fahrradladen an der Ecke kam auch oft. Sie absolvierte in der Mittagspause ihr Fitnessprogramm, lief in rosafarbener oder blauer Sportbekleidung die Alte Straße auf und ab, um für eine kleine Pause keuchend bei Taft Halt zu machen. Sie war herzlich und redselig wie viele seiner neuen Nachbarn, was er liebenswert fand. Dass sie einen komplizierten Freund und schwerkranke Eltern hatte, wusste Taft bereits nach seiner zweiten Begegnung mit ihr. Überhaupt nahmen einige Anwohner die Gelegenheit wahr, bei der vorgeblichen Recherche nach ihrem Thema überflüssige Angelegenheiten bei Daniel Taft abzuladen. Das reichte von Müllproblemen über undefinierbare Ohrenschmerzen bis zum Ärger über den Telefonkundendienst. Von allerlei seelischem Ballast, den sie mit Tiefe verwechselten, über amüsante und schöne Begebnisse bis zu ernstlichen Verwirrungszuständen, an denen ohnehin nichts zu ändern war. Manche blieben auf einen Kaffee oder zwei und warfen großzügig in die graublecherne Kaffeekasse, ein Souvenir des Vormieters. Sie kamen und schauten und erwarteten, so wenigstens kam es Taft vor, Vorschläge, wenn nicht ein Stück Alltagserlösung, Tageserleuchtung. Dabei wäre ihm nie eingefallen, derart Anmaßendes anzubieten, auf ihre Fragen und Geschichten überhaupt nur einzugehen. Seine Besucher respektierten diese Haltung mit großer Gelassenheit. Taft hörte zu, und das reichte den Menschen. Sein Zuhören war den Nachbarn angenehm. Für ihn hingegen war es eine Beschäftigung. Eine winzige Ablenkung von der Katastrophe, zu der sein Leben ohne Veronika geworden war.
Daniel Taft war weder schön noch hässlich. Ein hinreichend attraktiver Brite, mittelgroß (eins dreiundachtzig) und mittelschwer (zweiundachtzig Kilo). Er hatte einen ovalen Kopf und tiefbraunes, glattes Haar, freundliche Züge, einen schlichten Mund. Beim Sprechen sah man manchmal seine untere Zahnreihe, wenn er energisch den Unterkiefer vorschob, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; ein Kinn wie die alten Habsburger. Einnehmende Persönlichkeit, ohne dass er sich um diese Ausstrahlung auf andere bemühte. Man vertraute ihm. Sein Benehmen stets tadellos, ebenmäßig wie sein Gesichtsausdruck und seine braunen Augen, denen es auf seltsame Weise an Irritation, an einer zumindest winzigen Unregelmäßigkeit fehlte. Tafts Höflichkeit war nicht die tradierte seiner Landsleute, seine Zurückhaltung jedoch ethnologisch unverkennbar. In jeder Lebenslage Haltung zu bewahren war ihm in die britische Wiege gelegt worden. Sein Temperament demzufolge grundverschieden von Veronikas, die nicht unüberlegt, jedoch ungebremst gesprochen, entschieden, gelacht, geschimpft hatte. Jeden hätte sie heiraten können, das hatte er immer gewusst, und es hatte wahrlich genug Anwärter gegeben. Standesgemäße. Einserabsolventen aus gutem Hause, sportlich, schlank, schlau. Jene jungen Männer mit verschlagener Selbstsicherheit, die ihre an den Ellbogen zerschlissenen Kaschmirpullover wie Clubsignets trugen und früh gelernt hatten, sich in Maßen exzentrisch, ansonsten weltoffen und freiheitsliebend zu präsentieren. According the textbook. Veronika hatte nichts für sie übrig gehabt.
Sie, die kluge, angenehm uneitle Zahnärztin mit sanfter, sicherer Hand, wählte ihn, den britischen Hausmeister mit deutschen Wurzeln und französischem Wohnsitz. Hausmeister war er nicht im eigentlichen Verständnis des Wortes und sie mochte es nicht, wenn er sich so bezeichnete. Aber es war im weitesten Sinne das, was er getan hatte, bis Veronika verschwunden war: dafür Sorge tragen, dass in den Häusern, Villen und Schlössern der Klienten seines Arbeitgebers Sandhurst Real Estate alles in Ordnung war. Dass die leerstehenden Besitztümer in Kontinentaleuropa vernünftig instand gehalten wurden. Oder dass, was allerdings bei den wenigsten Immobilien dieser Kategorie der Fall war, die richtigen Mieter darin wohnten. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Verständnis von Wert und Besitz ein anderes als das der Auftraggeber war, die mit den zufällig geerbten oder lustlos, jedenfalls selten aus Leidenschaft erworbenen Immobilien nichts anzufangen wussten. Er hatte gelernt, die Verschwendung hinzunehmen, nicht mehr danach zu fragen, warum manche Leute aus Langeweile Häuser statt Bücher, Filme oder Computerspiele kauften. ‚Wertanlagerung‘. Eine seiner ersten Ideenkarten.
So habe ich Taft kennengelernt: als Verwalter meiner Immobilien. Damals hatten wir nie persönlich miteinander zu tun, wir haben uns in seiner Hausmeisterzeit nie gesehen. Was zu besprechen war, wurde mit meinen Mitarbeitern geregelt. Aber wie über alle Dienstleister, die im Privatbereich für mich tätig sind, fand ich irgendwann ein Dossier auch über ihn auf meinem Schreibtisch in London – von meiner Sekretärin und dem Anwalt sorgfältig zusammengestellt. Tafts einwandfreier Werdegang. Hervorragende Empfehlungsschreiben. Dazu kamen nach und nach seine schriftlichen Berichte und E-Mails zu meinem Haus auf dem Monte Argentario und zum Chalet meiner Mutter im Engadin. Es waren diese Mails, die mich auf ihn aufmerksam machten: Formvollendet. Sorgfältig. Und, was bei Immobilien nicht einfach ist, humorvoll. Gnädige Frau, was die Bäume im Engadiner Garten betrifft: Schon der Sils-Maria-Liebhaber Friedrich Nietzsche hat die Baumgrenze als Grenze zwischen Leben und Tod gedeutet – ähnlich sehen es die Nachbarn Ihrer verehrten Frau Mutter, allerdings weniger philosophisch … Verehrte Dame, sofern die Fassade des Chalets in Sils Maria nicht denselben Rostton annehmen soll, wie es die Denkmalpflege für Ihr Sommerhaus in Porto Ercole auf dem Monte Argentario vorsieht, muss sich unverzüglich ein Schreiner der Sache annehmen, und ich empfehle den ortsansässigen Franz Kiernberger, dessen Frau, was für Baubesprechungen von Vorteil ist, Inhaberin des Gasthofs Stern am See ist … Liebe Auftraggeberin, da wir heute über Abwasser aus Ihren Toiletten in Porto Ercole zu sprechen haben, ist die vertraulichere Ansprache meines Erachtens geboten, um dem spröden Thema ein wenig Persönlichkeit zu verleihen …
Als er bei Sandhurst aufhörte, hakte ich nach. Herr Taft? Oh, normalerweise darf ich keine Auskunft geben, aber da Sie so explizit nach ihm fragen … Er nimmt eine längere Auszeit. Er ist durch die Trennung von seiner Frau aus der Bahn geworfen worden. Sie hat ihn verlassen, von jetzt auf gleich, furchtbar, es ist jedenfalls eine Auszeit auf unbestimmte Zeit, plapperte die Mitarbeiterin bei Sandhurst unter dem Siegel der Verschwiegenheit, woraufhin ich Sandhurst kündigte und meiner Sekretärin auftrug, Taft ausfindig zu machen. Vielleicht war er dazu zu bewegen, sich selbstständig um meine Häuser zu kümmern. Ein paar Monate später legte mir Larissa die deutschen Zeitungsausschnitte über Theorie auf den Tisch.
— LOVE FOR SALE: Haben Sie eine Karte, auf der ‚Liebe‘ steht? Eine hochgewachsene Frau mit schmalen Schultern und Hüften, weißer Bluse, langen Beinen in olivgrünen, tarngefleckten Hosen und schulterlangen, blonden Haaren, die wild um ihren Kopf lagen. Ihrer Frage wegen kam ihm sofort Jazz in den Kopf. Love for sale. Wer hatte den Song gespielt, gesungen? Also – am besten gespielt, gesungen? Es waren so viele. Ella Fitzgerald. Shirley Bassey. Oscar Peterson. Er hatte Veronika erst lehren müssen, Jazz zu hören. Bis dahin hatte ihr niemand Jazz nahegebracht, und Jazz kann man nicht einfach hören, hatte er Veronika erklärt an ihrem ersten Abend, man muss ihn hören lernen, sich einhören, sich damit vertraut machen. Also hatten sie sich eingehört. Unermüdlich. Leidenschaftlich. Brad Mehldau vor allem, aber auch Charlie Parker, Bill Frisell, John Coltrane. Veronika liebte Gregory Porter, von dessen Album Water sie nicht genug kriegen konnte. Als er im Olympia-Theater live auftrat, standen sie in der ersten Reihe. Illusion, melancholisch, traurig, ihr Lieblingslied, der Text für Taft nun in anderem Licht. I’ve been trying to find reality a grip on the illusion that I lost you when you left me.
Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, gleich kehrtzumachen und zu gehen, wenn Sie eine Karte verkaufen, auf der ‚Liebe‘ steht, fügte die Frau hinzu. Ihr Gesichtsausdruck lausbübisch. Damit war alles gesagt, befand Taft und antwortete nicht. Sie waren allein im Laden, gegen Mittag. Sie stellte ihre Tasche auf dem Boden ab – eine elegante, schwarze Ledertasche mit kurzem Henkel – und studierte Karte für Karte. Taft konzentrierte sich wieder auf den Intelligenztest auf seinem Computerbildschirm. Mathematische Gleichungen. Er hatte sich angewöhnt, in regelmäßigem Abstand seine Fähigkeiten mit einem solchen Test zu überprüfen. Seit Veronikas Verschwinden zweifelte er ab und zu an seiner Geistesverfassung. Eine Karte mit ‚Liebe‘ wäre enttäuschend, sprach die Kundin gedankenverloren in den Verkaufsraum hinein. Ihre Stimme heiter, gewiss, stattlich. Das müssen Sie einsehen. Dann wäre Ihr Laden nichts als ein Postkartengeschäft und man müsste sich fragen, wieso die Medien derart über Sie berichten.
Taft sah nur kurz auf.
Sie drehte sich zu ihm: Womit erklären Sie sich eigentlich Ihren außerordentlichen Erfolg? Sind Sie nicht selbst überrascht davon? So etwas kann man nicht planen. Sie hatten einfach Glück, oder? Eine originelle Idee zur richtigen Zeit, schon fressen Ihnen die Zeitungen aus der Hand. Komisches Land. Es ist alles so offensichtlich.
Sie setzte die Lektüre der Karten an der schmalen Wand links der Tür fort. ‚Harakiri‘. Er wusste, dass dieses Wort dort hing, irgendwo, erinnerte sich nicht mehr, wie er darauf gekommen war. Er konnte nicht rechnen oder Zahlenreihen fortsetzen, während sie las. Sie bearbeitete das Kartengelände wie ein Pflug das Feld. Saubere, schnurgerade Reihen. Ihr Gesicht fein gezeichnet, weiblich. Unordentliche, freche Frisur. Zarte Gestalt. Sie amüsierte sich beim Lesen hier und da, kicherte leise. Taft wusste genau: Es gab keine Karte mit ‚Liebe‘. No love for sale. Es gab ‚Anziehungsmacht‘ und ‚Kopulation‘, ehrlich und unfeierlich. Selbstverständlich war ihm ‚Liebe‘ in den Sinn gekommen. Daraufhin hatte er eine andere Karte geschrieben. Eine mit dem Wort ‚Bündnis‘. —
Schon als junger Mann hatte sich Daniel Taft in Anbetracht des desaströsen Miteinanders seiner Eltern vorgenommen, eine vernünftige Ehe zu führen. Eine, in der einander zugehört und ernst genommen wurde, keine jener Beziehungen, in denen die Beteiligten zum Abziehbild der Vor- oder Unterstellungen des anderen wurden. Zum Abguss der Klischees, an denen man sich – schlimmstenfalls für den Rest des Lebens – abarbeitete. „Du kennst das ja“, fingen solche Unterhaltungen mit beliebigen Koalitionspartnern oft an. Am Ende dann ein „Männer eben“. Oder „Frauen halt“. Möglichst hoffnungslos intoniert. Taft hatte sich lange vor seiner Eheschließung, lange, bevor er seine Frau überhaupt kannte, geschworen, es so weit nie kommen zu lassen. Und es war auch nie so weit gekommen. Stattdessen war sie weg. Verschwunden. Das Warum unablässig in seinem Kopf, lauter, schriller als seine Selbstbeherrschung und alles Selbstvertrauen. Nachts fiel er von Hochhäusern und Klippen, abwärts, immer abwärts. Statt des Aufpralls das Aufwachen. Atemlos. Verschwitzt. Durstig. Er hatte sich der Illusion hingegeben, sie zu kennen, angenommen, dass er aufmerksam gewesen war, verinnerlicht hatte, was sie gesagt, gewünscht, beklagt hatte. Er hatte geglaubt, dass sie glücklich war. Keine Erklärung. Das trieb ihn um, machte alles andere nichtig und unmöglich. Nichts war erheblich. Das Warum schleifte sein Gehirn. Manchmal glaubte er, die Ursache gefunden zu haben. Dann war es, als passe plötzlich alles zusammen, das vorher keinen Sinn ergeben hatte. Als fügten sich ihre Sätze, Gesten, Handlungen zu einer unmissverständlichen Aussage, zu dem einen klaren Hinweis, den er nur früher hätte erkennen müssen. Doch eine schlaflose Nacht später war das Trugbild wieder entlarvt, passte nichts mehr zusammen, blieb alles unordentlich. Er wachte auf aus seinen Alpträumen, schenkte sich aus dem Hahn in der Küche ein Glas kaltes Wasser ein, setzte bedächtig und mühsam wie ein alter Mann einen Fuß vor den anderen, um zurück ins Bett zu gelangen, wo er sich an einem kleinen, tröstlichen Gedanken festhielt: Sie hatte ihn wegen einer anderen Frau verlassen.
Dies zumindest war, woran er sich klammern konnte – an diese Frau, die der Anlass gewesen war, diese Frau, die Veronika so wenig kannte wie er. Keiner von beiden hatte die Person – gelbblond und kurzhaarig, beleibt, puppengesichtig – jemals zuvor gesehen oder gesprochen. Trotzdem radierte sie einer Naturgewalt gleich aus, was nur ein paar Monate zuvor für haltbar und gut erklärt worden war. Zwischen Veronika und Daniel war alles so grundlegend in Ordnung, ja vielversprechend gewesen, dass sie damit einen Priester behelligt, Schwüre geleistet, Zeugen, Freunde und Verwandte zu einem größeren Fest gebeten hatten, das organisatorisch aufwendig und finanziell nicht unerheblich war. Sie hatten das Café Marly im Louvre gemietet, dessen geräumige, beheizte Terrasse den Blick auf die gläserne Pyramide im Innenhof des alten Königshofes freigab. Als Ehepaar überstrahlten sie ihren winterlichen Hochzeitstag. Sie tanzten und tranken, lauschten dankbar oder respektvoll mehr und weniger talentierten Rednern und nahmen die üblichen Geschenke entgegen: Blumenvasen, Silberschalen, Espressotassen. Sie bedankten sich bei Tanten und Onkeln und Kollegen und Freunden, zwinkerten sich dabei zu; sie gingen früher als alle anderen und fuhren in die Normandie, in Marcel Prousts Lieblingshotel Le Grand Hotel Cabourg, wo sie ihr Zimmer mit Meerblick drei Tage lang nicht verließen und sich so sehr liebten, dass Taft angenommen hatte, es wäre die Besiegelung der Ewigkeit.
Keiner ihrer Hochzeitsgäste, weder das Hotelpersonal in Cabourg noch der Bräutigam wäre auf die Idee gekommen, ein paar Monate später könnte alles vorbei sein. Natürlich war Taft klar: Die prägnante Stimme der Fremden konnte für Veronika nur der Anlass gewesen sein. Mit der Stimme allein, so bemerkenswert sie war, ließ sich ihr Verschwinden unmöglich begründen. Trotzdem war die Erinnerung an ihren Klang für ihn die Apokalypse. Aus heiterem Himmel – und heiter kam ihm sein Himmel zu diesem Zeitpunkt durchaus vor – zerbarst seine Ehe. Einer Nichtigkeit wegen, eines einzigen Wortes wegen.
‚Sturm‘.
Roman
Hardcover
220 Seiten
Berlin University Press, 2014
[D] € 19,90, [A] € 20,50
ISBN 978-3-86280-069-8
Für Daniel Taft ist mit einem Schlag alles anders: Sang- und klanglos von seiner gerade erst geheirateten Frau verlassen, gibt der Dreißigjährige die solide Karriere und das schöne Leben in Paris auf, zieht in Veronikas deutsche Heimatstadt, hofft und wartet dort auf ihre Rückkehr. Doch was zunächst ein Akt der Verzweiflung ist, erweist sich als Beginn einer beispiellosen Karriere mit ungeahnten Möglichkeiten. Husch Josten erzählt in ihrem neuen Roman vom kuriosen Lebensweg eines Mannes, der nichts will und alles erreicht und so schließlich die Antwort findet auf eine unermüdlich quälende Frage, die nicht nur seine Frau betrifft, sondern die Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation umspielt: Warum?